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Kultur: Der Chaos-Carlos-Club

Einige Wochen erst ist es her, da wurde Peter Konwitschny von der Kritikerumfrage der Zeitschrift "Opernwelt" zum fünften Mal in Folge (!) zum "Regisseur des Jahres" ausgerufen.

Einige Wochen erst ist es her, da wurde Peter Konwitschny von der Kritikerumfrage der Zeitschrift "Opernwelt" zum fünften Mal in Folge (!) zum "Regisseur des Jahres" ausgerufen. Ein schöner Erfolg, gewiss, nicht zuletzt für jene Opernhäuser, die ihm, dem Berührer, dem Parsifal, dem Schmerzensmann unter den Musiktheaterkünstlern unserer Zeit, programmatisch die Treue hielten - gegen alle noch so borstigen Widerstände: Häuser wie Graz, wie Dresden, wie Essen, wie Hamburg. Einerseits. Und ein Votum, andererseits, welches Konwitschny im Inneren mindestens so bedenklich stimmen müsste (und es vielleicht sogar tut) wie diese oder uns. In der ganzen weiten Opernrepublik, ob Bühnen Ost oder Bühnen West, kreuz und quer durch alle Boulevardgazetten, Feuilletons, Illustrierten und Tiefdruckbeilagen soll es seit fünf Jahren nicht den Anflug einer Alternative geben, keinerlei ernsthafte Konkurrenz? Gegen Konwitschny kann das naturgemäß nicht sprechen, wohl aber gegen die Branche mit ihren menschenfresserischen Tendenzen, ihren mörderischen Schmarotzer-Strukturen.

Man behauptet, Peter Konwitschny sei der letzte unter den letzten Mohikanern - und hegt und hätschelt ihn und und überhäuft ihn mit duftenden Lorbeerkränzen und schnürt ihn auf einem ehernen Sockel fest. Man fischt ihn, der sein heißes Herz längst in der losen Hand hält, von der Biegung des Flusses - und erklärt ihn, schamlos egomanisch, zum Haupt- und Staatskünstler der eigenen Erwartungen. Man fragt nicht: Wie soll er das aushalten? Oder: Wird er hier überhaupt gemeint? Nein, man fordert, klagt ein, erpresst - und merkt es nicht einmal. Es könnte einem Angst werden um diesen Menschen. Es wird einem Angst.

Denn die Sache geht noch weiter: Man selbst ist bitter enttäuscht, ja gekränkt, wenn Konwitschny einem, wie jetzt beim Hamburger "Don Carlos", den immerfrischen Blick, die immerneue Brille einmal verweigert. Man fühlt sich - wie lächerlich! - regelrecht in seinem Glauben erschüttert und in seiner Liebe betrogen, wenn die ersten und die letzten beiden Akte von Giuseppe Verdis Grand Opéra derart konventionell daherkommen: im marmorkühlen Einheitsraum nämlich, einem sowohl palast- als auch klostertauglichen Kabinett der tausend Türen, und im düster folkloristischen Kostümreigen der Spitzhüte und Halskrausen (Ausstattung: Johannes Leiacker). Im dritten Akt freilich tobt dann, entschädigungsweise, der Bär. Die Hamburgische Staatsoper nämlich spielt das Werk nicht nur fünfaktig und in französischer Sprache, sondern zudem in "ungekürzter Fassung", was bedeutet, dass Ingo Metzmacher etliche Striche, die Verdi aus pragmatischen Gründen noch vor der Pariser Uraufführung am 11. März 1867 selbst besorgte, wieder aufgemacht hat. Das verschafft der Aufführung gewiss nicht immer die schönere oder kurzweiligere Musik, wohl aber eine andere Zeitlichkeit, ein anderes, gleichsam dramaturgischeres Denken beim Entwickeln der Fatalitäten. Wer fünf Stunden lang hört und sieht und sieht und hört, wie "ohnmächtig die Mächtigen" sind und wie "mächtig die Ohnmächtigen", der begreift (fernab von Wagner und Meyerbeer!) - anders.

Und das ist es wohl auch, was Metzmacher am Pult des zur Premiere leider nur mäßig gut gelaunten Philharmonischen Staatsorchesters will: Diese Partitur, sagt er, kennt keinen Puls, keinen dramatischen Herzschlag, sie weiß buchstäblich nicht wohin in ihrer weitgespannten Melodik, ihren schaurig glänzenden, chromatisch ausgetüftelten Harmonien, ihren manischen Vorhaltfiguren. Deshalb die zögerlichen Tempi, die vielen berstenden Zäsuren, Generalpausen, Stillstände, ja Löcher der musikalischen Zeit. Als Programm, als Frucht kluger Analyse mag das brillant sein; als sinnliches Hörerlebnis, als Entfaltung subversiver Kräfte taugt es nur bedingt. Dafür wirkt Metzmacher (noch) zu verkrampft, zu verkopft, zu wenig inspirativ in seiner Zeichengebung. Jedenfalls: Zu den geöffneten Strichen gehört im dritten Akt auch das komplette "Ballet de la reine". Konwitschny überschreibt die sanft tändelnde, bisweilen mit Macht ins Humoristische, ja Fratzenhafte drängende Musik als "Ebolis Traum": Der Raum fährt hoch und gibt eine förmlich Marthalerische Unterwelt frei (ob das Steckenbleiben der Maschinerie in der Mitte der Verwandlung nun ein Gag war oder technisches Versagen, bleibe dahingestellt): geblümte Tapeten, ein künstliches Kaminfeuer, eine Musikbox, ein Esstisch, eine Einbauküche. Eboli und Carlos im perfekten Spießerglück. Eine Gans wird gebraten und hausfraulich verkohlt, Philipp und Elisabeth kommen zu Besuch. Das Ganze endet im bürgerlichen Vollrausch: Carlos kurvt Sektflaschen schwenkend im himmelblauen Gitterbettchen durchs Gelände - und Eboli ist endlich schwanger. Tumulte, Kriegsgetümmel im Saal.

Ebolis Einbauküche

Zuvor aber werden - und über diesen Bruch mag sich das Publikum zu Recht gewundert haben - in geradezu Noeltescher Unerbittlichkeit die bekannten Intrigen gesponnen: Elisabeth von Valois, die Carlos, den spanischen Infanten, liebt und mit Philipp II. (Robert Hale), seinem Vater, vermählt wird; der Marquis von Posa (Jean-Luc Chaignaud mit echtem Verdi-Bariton), ein intellektueller Idealist, der für die Befreiung Flanderns streitet und am Ende mehr für seine Ideen als tatsächlich für den Infanten stirbt; der König selbst, ein Mensch im Fadenkreuz von Staatsräson und Einsamkeit; Prinzessin Eboli (furios: Jeanne Piland), ihrerseits zweifach unglücklich liebend; das kriegsmüde Volk, stets im Begriff mit Heugabeln und Dreschflegeln eine größere oder kleinere Revolution vom Zaun zu brechen; und der senile Großinquisitor (Simon Yang), sprichwörtlich mit Blindheit geschlagen und zum Äußersten bereit. Außerdem nicht zu vergessen: Jene merkwürdige Mönchsgestalt (anrührend sonor: Marcel Rosca), die allenthalben mit der Stimme Karls V. durchs Geschehen geistert und das Liebespaar wie ein deus ex machina im entscheidenden Augenblick dem tödlichen Zugriff der Inquisition entzieht.

Das übrigens ist eine der raren Stellen, denen man in Hamburg außerhalb des dritten Aktes - bei aller Wortwörtlichkeit! - so etwas wie Regietheater unterstellen möchte: Der Mönch (welcher sich zuvor unter seinem lustigen Strohhut hauptsächlich als Gärtner betätigte, vorne an die Rampe ein Bäumchen pflanzte, dieses eifrig harkte und goss), dieser Mönch nimmt Elisabeth und Carlos am Ende wie zwei artige Kindlein bei den Händen: Schon tut sich hinten ein bühnenhaushoher Schlitz in der Wand auf, Licht flutet herein, Nebel wallen, die Drei entschwinden. Es gibt eine Welt jenseits der so genannten Wirklichkeit, sagt dieses Bild, es gibt ein Leben vor dem Tod. Ein besseres Leben, versteht sich, und eine bessere, bewohnbarere Welt. Ansonsten aber halten sich Peter Konwitschny, sein Dramaturg Werner Hintze und seine Mitarbeiterin Vera Nemirova akribisch ans Stück und seinen Text, erzählen glasklar, mit lupenreiner Präzision und im Gestus staunenswerter Unaufgeregtheit, was zwischen wem passiert und warum. Gewiss, die Figuren sind allesamt fallsüchtig, todessüchtig, offenkundig des Lebens müde. Man kniet und wälzt sich am Boden, man rauft sich die Haare und bricht, wenn die Verzweiflung überhand nimmt, in irres Gelächter aus. Carlos etwa, der Infant, macht seinem Namen von Anfang an alle Ehre, kommt mit seiner speckigen Glatze wie ein Clown, wie ein dickliches altes Kind auf die Bühne gekugelt und kuschelt sich, während Posa drei Akte später in einer der grandiosesten Arien, die Verdi je geschrieben hat, stirbt ("Ah, je meure"), entsetzt in dessen Schoß. Selbst die Pietà steht Kopf. Auf nichts in dieser Welt scheint mehr Verlass. Alles in allem aber scheint hier der gute alte Theaterspruch zu gelten: Die beste Regie ist die, die man nicht merkt.

Unruhig rutschen wir auf unserem Plüschsessel hin und her, wollen damit partout nicht zufrieden sein - und schämen uns unserer elenden, abgebrühten Sensationsgier. Konwitschny freilich wäre nicht Konwitschny und immer auch ein Hüne, ein Berserker seines Fachs, wenn er sich nicht zu wehren wüsste. Im Grazer "Falstaff" etwa - jene Aufführung, auf die die Opernwelt sich in ihrer jüngsten Wahl bezieht - wird das Personal zur Schlussfuge von einer Putztruppe auf die Straße hinausgefegt: Wie ausgespuckt finden sich die Komödianten im Hier und Heute wieder, ein langes Leben dürfte ihnen nicht beschieden sein. Das Autodafé im dritten Akt des "Don Carlos" setzt nun noch eins drauf: Als glitzriges Pausenspektakel in Szene gesetzt (mit Video-Leinwand im Foyer, Horden stöhnender Gefangener, die an klirrenden Ketten durch den Saal getrieben werden, und einem Publikum in Auflösung, buchstäblich zwischen allen Stühlen) hält es der Oper den Spiegel vor: Was ist wahr, was falsch? Und: Wissen wir eigentlich, was wir hier tun?

Brachiale Metaphern des Abschieds, des Abhandenkommens, der Auslöschung von innen. Abschied vom Theater als humanistischer, gesellschaftlicher Anstalt. Übt schon mal, ruft Konwitschny uns mit jeder Aufführung kauziger, verschrobener, wütender werdend zu, für die Zeit nach dem Theater, für eine Existenz ohne Theater. Die Oper als Menetekel ihrer selbst?

Was bleibt, ist der Gesang, der singende Mensch auf der Bühne: Danielle Halbwachs als Elisabeth und Gabriel Sadé als Carlos im Schlussduett. Sie mit großartig ernstem, leuchtendem Charaktersopran, er ein wenig pauschal, ein wenig raubauzig im Ton, aber stark in Spiel und Ausdruck. Wie zwei Albatrosse heben sie die Arme zum schönsten, längsten aller Flüge, taumeln, trudeln, tänzeln durch den nackten Raum: "Adieu ma mère!", "Adieu mon fils!" Nein, es muss einem nicht Angst werden um die Menschen. Noch nicht.

Christine Lemke-Matwey

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