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Kultur: Der Chinese des Scherzes

Lenin trifft Schröder: Das Grips-Theater aktualisiert „Eine linke Geschichte“

Die Geschichte der Linken hat Tonnen von theoretischer Literatur hervorgebracht. Die Linke hat nicht unbedingt ans Geschichtenerzählen geglaubt, wohl aber an die Macht des Wortes. Man muss die richtigen Worte finden, dann klappt die Chose: Vor fast genau einem Jahr, am 14. März 2003, hat der SPD-Bundeskanzler das Wort „Agenda 2010“ in die Welt gesetzt. Die Rede steht im Internet. 16 schwer lesbare Seiten. Ein Programm zu entwerfen, einen Begriff zu erfinden, eine Grundsatzrede zu halten – in solchen Dingen ist Gerhard Schröder immer noch ein Linker, fast ein Lenin. Lenin hat, als er in ähnlich schwieriger Lage war wie heute Schröder, den Begriff „Neue ökonomische Politik“ erfunden, das war seine Agenda 2010. Der Satz „Wir werden mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen abfordern müssen“ könnte Wort für Wort sowohl bei Lenin als auch bei Schröder stehen.

Fast genau zum einjährigen „Agenda 2010“-Jubiläum lud das Grips-Theater zur Premiere. „Eine linke Geschichte“, elfte Fassung, Regie: Rüdiger Wandel. Die „linke Geschichte“ ist, neben „Linie 1“, der zweite Dauerbrenner von „Grips“, in den fast 25 Jahren seines Bestehens ist das Stück zum Berliner Kulturdenkmal geworden wie der Funkturm oder die Paris Bar. Die „linke Geschichte“ ist so sehr Kult, dass sie sogar der kritischste Linke nicht mehr kritisieren kann. Volker Ludwig und Detlef Michel hatten sie 1980 zum ersten Mal erzählt. Es ging darum, der nachwachsenden Jugend das Phänomen „1968“ zu erklären und die in Fraktionen zerfallenen Genossen von einst an die Gründerzeit zu erinnern. Die „linke Geschichte“ beschreibt den Lebensweg des intellektuellen Theoretikers Johannes, des pragmatischen Bauchmenschen Lutz und der sich emanzipierenden Karin, Verkörperung des gesunden Menschenverstandes, drei, die damals im gleichen Seminar saßen. Der Erfolg des Stückes hängt mit dem hohen Wiedererkennungswert und der extrem humorgesättigten Beschreibung westdeutsch-linker Rituale zusammen: Frühstück in der Wohngemeinschaft, Beziehungskrisengespräch, Kaderdiskussion in der K-Gruppe. Ludwig und Michel verurteilen weder noch verherrlichen sie. Sie halten sich in der ironischen Halbdistanz. Kern der Handlungszeit: 1966 bis 1977. Die letzte Szene spielt immer in der Gegenwart.

Also mussten die Autoren den Schluss immer wieder neu schreiben, im Abstand von ein bis drei Jahren. Die verschiedenen Schlüsse, in denen sich der jeweilige mentale Zustand der deutschen Linken spiegelt, sind schon fast ein eigenes Stück, das man gerne mal sehen würde. In diesen Schlüssen lief es immer auf ein trotziges „dennoch“ oder auf ein „jetzt geht’s los“ hinaus, sie waren immer hoffnungsvoll, mal mehr, mal weniger. So lange wie diesmal, sechs Jahre, hat die Suche nach einem Schluss der „linken Geschichte“ allerdings noch nie gedauert. Man durfte gespannt sein. Im Theater saßen Wolfgang Thierse, der Bundestagspräsident, der neue SPD-Generalsekretär Klaus Uwe Benneter, und auch sonst jede Menge Sozialdemokraten. In der „linken Geschichte“ geht es natürlich immer sehr stark um die SPD.

Diesmal endet es nach fast vier Stunden in der Uckermark, der Toskana des Nordens. Johannes, der stets etwas Wendigere (Jens Mondalski), feiert im Sommerhaus 60. Geburtstag. Er ist Professor für Kommunikationswissenschaft, hat einen Bestseller mit philosophischer Lebenshilfe herausgegeben, seine Literaturagentin ist schwanger von ihm, und auch sonst sieht er wie Uli Wickert aus. Lutz, die ehrliche Haut (Frank Engelhardt), rackert seit Jahrzehnten beim Fernsehen, und muss für Privatsender Features drehen zum Thema „Wie sexy war die Linke?“. Karin (Katja Hiller) ist irgendwie verbittert, sie scheint ein hohes Tier bei den Grünen zu sein. Es taucht ein polnischer Handwerker auf, der offenbar die Hoffnung Europa verkörpert und Tatkraft versprüht. Dann kommt, einigermaßen überraschend, ein Chinese in den Garten. Er wundert sich über das Maoplakat, das die Freunde in ironischer Absicht aufgehängt haben, bietet Johannes eine chinesische Übersetzung seines Bestsellers an und äußert die Erwartung, dass Deutschland, weil es so ruhig und friedlich sei, eine große Zukunft als Urlaubsziel für gestresste Chinesen haben könnte. Das ist am Ende die Hoffnung. Ein Chinese. Oder auch die Globalisierung. Oder sonst was.

„Eine linke Geschichte“ hat noch nie so rätselhaft, so kalauernd oder auch literarisch aufgehört. Es gibt nicht mehr die Hoffnung, vielleicht doch Recht zu behalten, nur mehr die Hoffnung, den chinesischen Markt zu erobern.

Das vorerst letzte linke Projekt kommt mit keinem Wort vor. Die Agenda 2010 wird nicht einmal abgelehnt oder veralbert. Es ist wohl einfach so, dass man mit sechzig in der Uckermark andere Sorgen hat. Denn sicher ist die Rente ja nicht, und die jungen Freundinnen kriegen Kinder wie die Kaninchen. So endet das Jahrhundert der Theorie.

Wieder heute, 19.30 Uhr

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