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Kultur: "Der Cirkus": Schrecklich sinnlich: Ramón Gómez de la Serna singt ein Loblied auf eine untergehende Kunst

Was die Zahl seiner Werke angeht (zwischen 70 und 150 Titel) sowie die Ursachen dieser Produktivität gehen die Einschätzungen weit auseinander. Einigkeit herrscht aber in einem Punkt: Ramón Gómez de la Serna ist einer der wichtigsten spanischen Autoren des 20.

Was die Zahl seiner Werke angeht (zwischen 70 und 150 Titel) sowie die Ursachen dieser Produktivität gehen die Einschätzungen weit auseinander. Einigkeit herrscht aber in einem Punkt: Ramón Gómez de la Serna ist einer der wichtigsten spanischen Autoren des 20. Jahrhunderts - und einer der originellsten. Sein Werk umfasst Romane, Essays und Biografien. Am ehesten Bestand haben wird allerdings die von ihm entwickelte Gattung der Greguerías, die man mit dem Aphorismus vergleichen könnte, würde sie nicht dessen Logik auf den Kopf stellen.

Während der Aphorismus versucht, Wahrheiten pointiert zu erfassen, destillieren die bizarren Paradoxien der Greguerías getreu der Definition ihres Autors "Greguería = Humor + Metapher" aus Gewissheiten Rätsel. Unvoreingenommen betrachtet Gómez die Welt und kommt zu erstaunlichen Erkenntnissen: "Das X ist der Klappstuhl des Alphabets" heißt es da etwa. Oder: "Die Verrückten sind jene, die eine List ersonnen haben, nicht denken zu müssen."

Ein Verrückter war der 1888 in Madrid geborene und 1963 im argentinischen Exil gestorbene Gómez de la Serna in gewisser Weise auch. Aufgewachsen in einer Zeit, in der die letzten spanischen Weltmachtbastionen verlorengingen, wurde er von den Dadaisten und Futuristen, später den Surrealisten geprägt. Dass ein Autor, der ein Faible für das Unvernünftige, Verrückte, Unlogische hatte, eine große Affinität für den Zirkus empfand, leuchtet ein: "Ich bin bei aller Liebe davon überzeugt, dass das Leben eine groteske Sache ist, was sich am besten dort zeigt, wo das Groteske harmoniert und einen künstlerischen, entzückenden Ausdruck bekommt: im Cirkus." Dessen "großes Warenlager des Unverständlichen und Unverhofften" setzt die Gesetze der Wirklichkeit außer Kraft und definiert sie auf seine Weise neu. Wie die Clowns die soziale Ordnung, die Akrobaten die Naturgesetze ("Im Cirkus irrt sich die Anatomie") systematisch ignorieren, so schert sich auch der Dichter nicht um gültige Normen.

Clowns erhellen den Zirkus

Ein konventionell erzählendes oder beschreibendes Zirkusbuch ist von so jemand nicht zu erwarten. De la Sernas "Cirkus" nimmt sich seines Gegenstands denn auch auf eigene, gleichwohl angemessene Weise an. In einer bunten Nummernfolge richtet er seinen Scheinwerfer auf einzelne Aspekte des Zirkus, dessen Programm und Personal er von der Eröffnungsnummer über die Pause bis zum großen Finale übernimmt, wobei er dem Prinzip der Greguerías folgt. In zahllosen Skizzen schildert er den Zirkus: eine laute, anarchische, bisweilen geschmacklose Welt, "maßlos und verwirrend", "schrecklich sinnlich". Gómez de la Sernas poetischer Blick erklärt sie uns neu. Etwa die Clowns: "Der Clown ist es, der den Cirkus erhellt, und vielleicht erhellt er das Leben, denn den meisten Trost gibt uns die Tatsache, dass sie nach unserem Tod mit ihren Späßen fortfahren." Oder die Illusionisten: "Die Spielkarte, mit der der Zauberkünstler um sich wirft und die uns beim Flug durch die Luft aus der Kartensammlung zufällt, bewahren wir auf, als könnte sie uns einmal in einem Notfall des Lebens dienlich sein." Oder die Raubtiere: "Der Beifall für die Raubtiernummer wird zunichte durch die Gleichgültigkeit, mit der ihm die Raubtiere zuhören, durch ihre unerschütterliche Geringschätzung."

Im Gegensatz zum Zirkusbesucher allerdings, der atemlos von einer Sensation zur nächsten gezogen wird, erliegt der Leser dem Charme des Buches nur, wenn er es in kleinen Portionen liest. Es dokumentiert eine vom Untergang bedrohte Welt. Hochtechnisierte Spektakel, die Konkurrenz von Kino und Sport warfen schon zu de la Sernas Zeiten Schatten auf das Milieu der Schaubuden, Wanderzirkusse und ursprünglichen Massenbelustigungen: "In der Zukunft werden wir den wissenschaftlichen Cirkus haben, alles läuft auf der Grundlage von Maschinen und Elektrizität, alles ein Ergebnis dessen, was die fertigen Maschinen an Spaßigem, Unvorhergesehenem und Überraschendem hergeben, auch wenn sie bei den größten Witzen und Späßen ganz ernst bleiben. Dieser Cirkus der Zukunft wird ein Irrtum sein." Von den Wiederbelebungsversuchen vorgeblicher Zirkuspoesie in Gestalt von Roncalli & Co. konnte er freilich wenig ahnen. De la Serna huldigt dem Zirkus in Form von Apotheose und melancholischem Abgesang: "Wir verlassen den Cirkus, als hätten wir gerade einen homöopathischen Scheinwerfer verschluckt. Man kommt heraus mit einer tiefen Melancholie, mit einer fast unstillbaren Wut angesichts der Kürze des Aufenthalts in dieser lunarischen Welt, sorglos und überrumpelt von einer Welt halbseidener Weiblichkeit, die verdächtig lauter und strahlend ist." Retrospektiv portraitiert er im Epilog einstmals große Namen und Nummern und nimmt schließlich - nun auch offiziell zum Cirkuschronisten ernannt - auf dem Trapez pathetisch Abschied: "Im Cirkus kehren wir alle ins Paradies zurück, darin wir gerechter, unbefangener und toleranter sein müssen."

"Der Cirkus" ist ein prachtvolles, zudem schön aufgemachtes- literarisches Spektakel, die Chance der Wiederentdeckung eines einzigartigen Autors. In seinem Buch lebt der ursprüngliche Zirkus weiter, "dessen Naivität, Klarheit und urtümlich paradiesische Anmut". Es ist die Utopie von einer menschlichen Welt, das Beharren auf kindlicher Unvernunft, wie sie Ramón Gómez de la Serna in einer seiner schönsten, auf Don Quijote abzielenden Greguería trotzig beschwört: "Das Schönste wäre, es stellte sich am Ende heraus, dass die Windmühlen keine Windmühlen sind, sondern Riesen."

Thomas Schaefer

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