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Kultur: Der Citoyen

Unser Gewissen: Vor 20 Jahren starb Heinrich Böll

„Der ganze Hof war mit säuberlich aufgestellten Gruppen besetzt, die sich in einer gewissen Reihenfolge wie am Schnürchen bewegten. Durch einen Pfiff des jeweils zuständigen Untergottes wurde die nächste Übung für die nächsten zehn Minuten festgelegt. Die Menschen waren wie Puppen, die sich an irgendeinem Strang des Gehorsams bewegten, einem Strang, der in irgendeinem geistlosen Gehirn endete. Das Denken war den Pferden überlassen!“ Heinrich Bölls erste veröffentlichte Kurzgeschichte, erschienen am 3. Mai 1947 im „Rheinischen Merkur“, schildert unter dem Titel „Aus der Vorzeit“ das Exerzieren auf einem deutschen Kasernenhof. Krieg, Militarismus, Freiheit und Menschenwürde – darum geht es dem viermal Verwundeten nach sechs Wehrmachtsjahren in Frankreich, Polen, der UdSSR, Rumänien, Ungarn und Deutschland. Seine Familie ernährt Böll zunächst durch Aushilfsjobs beim Statistischen Amt in Köln. Bei seinem Tod, heute vor 20 Jahren, ist der Dichter weltberühmt.

Böll, ein deutsches Monument. Im Schatten dieses Monuments gilt sein Werk – Weltauflage über 20 Millionen in 35 Sprachen – fast schon als aus der Mode gekommen. Ist das eine schlechte Nachricht? Ist Böll die verblassende Figur des Schriftstellers als engagierter Bürger und moralische Instanz, die Prosa gewordene political correctness? 18 Schulen tragen seinen Namen, er ist Patron einer politisch engagierten Stiftung, Mitglied der Gruppe 47, kritischer Katholik, westdeutscher Dissident, Demonstrant und Förderer der Grünen, verdächtigt als RAF-Sympathisant: Der Name Böll bezeichnet das Gesamtkunstwerk eines redlichen Citoyens, der vom Untergang des bürgerlichen Zeitalters berichtet – und das Bundesverdienstkreuz zurückweist.

Seine Buchtitel – „Ansichten eines Clowns“, „Gruppenbild mit Dame“, „Die verlorene Ehre ...“ – sind Marksteine im kollektiven Gedächtnis der Nation: Slogans, die sich in den Köpfen festgesetzt haben. Bestseller wurden daraus, mitunter Filme, schließlich Schülerpflichtlektüren. Der Rheinländer mit den traurigen Augen verkörpert das rehabilitierte, anständige, selbstkritische Deutschland. Dieses Deutschland widmet dem Nobelpreisträger nun eine 27-bändige kritische Werkausgabe, die 2009 abgeschlossen sein soll. Und zum runden Todestag würdigt Marcel Reich-Ranicki den Böll der frühen Jahre: Er habe „das Zeitgeschehen gegen Ende des Krieges und in den ersten Nachkriegsjahren glänzend wiedergegeben“.

„Mein eigentliches Thema ist die Liebe und die Religion,“ bekannte Heinrich Böll 1967. Vielleicht verrät die Rede von der verblassten Strahlkraft ja mehr über die Wahrnehmungsraster des Literaturbetriebs als über die Aktualität seiner Bücher. Im Mai 1985, wenige Tage vor dem 40. Jahrestag des Kriegsendes, schrieb er ein Gedicht für seine Enkeltochter Samay: „Wir kommen weit her/liebes Kind/und müssen weit gehen/keine Angst/alle sind bei Dir/die vor Dir waren.“ Sentiment? Poesie? Ein Bekenntnis zur Tradition, zur Gemeinschaft der Heiligen?

Die gute Nachricht ist: Dieser Dichter hat Todesängste überlebt. Das Denken hat er nicht den Strippenziehern überlassen. Bölls Vermächtnis: Die Freiheit fängt im Kopf an.

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