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Kultur: Der Dichter und Minister als Avantgardist - Kurze Bilanz nach einer langen Feier

Weimar hatte seinen Feier-Etat für das kulturhauptstädtische Goethe-Jahr 1999 zwar um 14 Millionen Mark überzogen, aber statt der erwarteten drei Millionen Besucher kamen dann sieben Millionen Besucher. Und während wir zu DDR-Zeiten nur 20 Meter von den Hauptstraßen weggehen mussten, um Bäume und Sträucher aus den Trümmergrundstücken und leeren Fassadenfenstern wachsen zu sehen, erblicken wir nun auch im 21.

Weimar hatte seinen Feier-Etat für das kulturhauptstädtische Goethe-Jahr 1999 zwar um 14 Millionen Mark überzogen, aber statt der erwarteten drei Millionen Besucher kamen dann sieben Millionen Besucher. Und während wir zu DDR-Zeiten nur 20 Meter von den Hauptstraßen weggehen mussten, um Bäume und Sträucher aus den Trümmergrundstücken und leeren Fassadenfenstern wachsen zu sehen, erblicken wir nun auch im 21. Jahrhundert eine geputzte Stadt, die vielleicht an einigen Stellen ein wenig zu plastikbunt restauriert wurde, aber viel freundlicher strahlt als vor 10 oder 15 Jahren.

Goethes Triumph also auch nach seinem 250 Geburtstag?

Ja, und dies nicht nur unter touristischen Aspekten. Vom Belvedere bis zum Goethe-Nationalmuseum und dem Kirms-Krackow-Haus leuchtet Weimar wieder, und das alles wäre nicht mit den Namen Wieland, Herder oder Schiller zu schaffen gewesen: Die touristische wie die lesende Öffentlichkeit lässt sich von Goethe ganz anders charmieren und hinreißen. Zudem gibt es dümmere Arten von Massentourismus als den, der sich Weimar zum Ziel nimmt und dann auch das Geschäft mit "Salve"-Fußabstreifern, "Salve"-Baseballkappen oder kleinen silbernen Gingko-Anstecknadeln belebt. Übrigens verkaufen sich von allen Jubiläumsbüchern besonders gut Siegfried Unselds Insel-Bändchen mit einer Kulturgeschichte des Gingko biloba, den Goethe symbolisch überhöht hat im gleichnamigen Gedicht des "West-östlichen Divan" - sowie Sigrid Damms Buch über Christiane Vulpius, das sich zwar die Human-interest-Story der Beziehung zwischen Goethe und der sympathischen "Frau aus dem Volke" zu Nutze macht, aber doch aus Quellen schöpft, die so detailliert noch nie ausgewertet worden waren.

Die Grenzen des aktuellen Interesses sind im Buchhandel dennoch schnell erreicht: Der Verkauf der 14-bändigen Taschenbuch-Ausgabe der Werke Goethes, der sogenannten "Hamburger Ausgabe", für 98 Mark spottbillig auf den Markt geworfen, ging nur schleppend, ähnliches gilt für andere preiswerte Sonderausgaben, etwa die Bände mit Gedichten Goethes aus der großen "Frankfurter Ausgabe".

Da liegt offenbar der Haken: Sich von Goethe ein bisschen streifen zu lassen, ein wenig in Dichters Lande zu reisen, obendrein dies oder jenes Goethe-Utensil zu kaufen ist leichter, als in einsamer Konzentration und Begeisterung die Werke des Dichters lesen.

Aber hatte jemand etwas anderes erwartet? Wenn - mit einigen wenigen Ausnahmen, von Hanns Josef Ortheil bis Dieter Kühn - sich auch die lebenden Schriftsteller nicht von Goethe produktiv provoziert fühlen, warum sollte dann in einer größeren Öffentlichkeit noch der Enthusiasmus für klassische Literatur zu wecken sein? Früher war die Politik verächtlich-vergänglich, und die Geistesheroen blieben; heute hat man bisweilen eher das Gefühl, dass Hitler bleibt und allgegenwärtig ist, Goethe aber vergeht. Selbst "Wanderers Nachtlied" wird nicht mehr so innig-identifikatorisch gelesen; der "Wilhelm Meister" war wohl schon immer eher das zur Lektüre verpflichtende Beispiel eines Bildungsromans und wird dann prompt zur (ungeliebten)Bildungssache. Und der "Faust" - ja, der "Faust" ist dann doch ein Sonderfall, aber er hat doch seinen national-metaphysischen Appeal verloren, selbst wenn sich Albrecht Schönes zweibändige "Faust"-Ausgabe samt Kommentar im Deutschen Klassiker Verlag 14 000 Mal verkaufte.

"Unsere Zeit ist die homerische nicht mehr", seufzte Schiller zu Recht, und mit Goethe war er zehn Jahre lang damit beschäftigt, wenigstens noch einen Abglanz der Sonne Homers auf unsere nordische Kultur zu legen. "Ein schönes Umsonst", urteilte Nietzsche über diesen Versuch, und Gottfried Benn konstatierte kühl, geschmerzt und präzise: "Von Homer bis Goethe war es eine Minute, und von Goethe bis zu uns sind es 24 Stunden." Er hatte die Beschleunigung allen Zeiterlebens und die viel dichteren, tiefergehenden Verwandlungen der letzten 170 Jahre im Sinn, und dass die einen Einschnitt bedeuten würden auch für die Möglichkeit der Aufnahme seines eigenen Werkes wußte keiner besser als Goethe selbst, der das 19. Jahrhundert schon entscheidend geprägt voraussah vom Maschinenwesen und den "Fazilitäten der Kommunikation".

Apropos Kommunikation: Ein Goethesches Konzept, das im Jahr 250 nach Goethes Geburt gerne als Beleg für die diagnostischen Fähigkeiten des Alten Herrn angeführt wurde, ist das der "Weltliteratur", die das borniert Nationale auch in der Dichtung wahrhaft grenzenlos hinter sich lasse. Die Ironie bei der Sache ist nur, dass Goethe schließlich einsah, dass dies auch ein Überschwemmtwerden mit Massen belangloser fremdsprachiger Literatur bedeuten würde. Er freute sich der extensiven Vielfalt der Lektüren und ahnte, dass dabei das Lesen als intensive geistige Begegnung verloren gehen würde. Vielleicht ist aber Entspanntheit und Ernüchterung, die Befreiung Goethes aus dem Bann ideologischer Beschlagnahme, das positivste Phänomen: Wir knien nicht mehr vor Goethe, dem "Originalgenie", und nehmen erleichtert zu Kenntnis, dass er sich selbst hellsichtig und dankbar als "Ensemble-Wesen" verstand, in dem sich das verschiedentlich Gelernte und Überlieferte amalgamierte.

Unterscheidlich ist auch, was ich als Gewinn der vielen Goethe-Publikationen im vergangenen Jahr erlebte: die Vollendung der Edition beispielsweise eines der großen Briefwechsel Goethes, nämlich der Korrespondenz mit dem Berliner Kapellmeister und Komponisten Carl Friedrich Zelter im Rahmen der nun vollendeten "Münchner Ausgabe"; oder Roberto Zapperis Buch über Goethes glückhafte Ausnahme-Existenz in Rom; auch W. Daniel Wilsons Studien über die politisch in unserem heutigen Sinn nicht eben fortschrittlichen Denk- und Handlungsweisen des skeptizistischen Dieners eines spätabsolutistischen Fürsten - ja, "Das Goethe-Tabu" W. Daniel Wilsons (bei dtv) lohnt trotz aller Schmähungen genaue Lektüre. Schließlich der höchste Gewinn, der weit über das Goethe-Jahr hinaus anhalten wird: die Lektüre des zweiten Bandes von Nicholas Boyles Goethe-Biographie (C. H. Beck). Da beschämt ein Brite uns Deutsche, auch uns deutsche Germanisten!

Auch alle, die keine 900 Seiten Biographie lesen wollten, wurden 1999 gut bedient: Der Tenor Hans Jörg Mammel etwa und Ludwig Holtmeier am Hammerflügel des Goethe-Hauses führten Goethe-Lieder von Schubert und Zelter auf, davon gibt es zwei CDs, und, oh Wunder: Zelter ist ein viel besserer Komponist als man dachte! Das Bildungsbürgertum mag verschwunden sein, und Goethe hat in seinem Jubiläumsjahr auch nicht eine größere Debatte ausgelöst. Kleist, Büchner oder Nietzsche bilden im Moment größere Herausforderungen. Das mag auf einer Lektüre beruhen, die bis heute die Risse, die Goethes auf weite Strecken geradezu experimentelles Werk durchziehen, nicht mehr oder noch nicht wieder wahrnehmen kann. Aber die Dichtungen und Gedanken des Poeten, Ministers, Malers, Naturforschers und sogar Gärtners liegen vor - und viele Arbeiten, die sie erschließen: als Herausforderung und Chance.

Jörg Drews

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