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Kultur: Der Dolch im Eis

Viele, ganz unterschiedliche "Theaterformen" sind zwischen Hannover und Braunschweig während des gleichnamigen Theaterfestivals in den letzten zwei Wochen vorgestellt und ausprobiert worden.In der Auswahl von Festivalleiterin Marie Zimmermann dominierten mit Sinn die kleinen Etuden.

Viele, ganz unterschiedliche "Theaterformen" sind zwischen Hannover und Braunschweig während des gleichnamigen Theaterfestivals in den letzten zwei Wochen vorgestellt und ausprobiert worden.In der Auswahl von Festivalleiterin Marie Zimmermann dominierten mit Sinn die kleinen Etuden.Die Festivalleiterin aus Stuttgart, als zuletzt stellvertretende Schauspielintendantin dortselbst ein Kind es etablierten Theaters, hatte nur drei große Stücke eingeladen, zweimal Shakespeare und einmal etwas ähnliches: Karin Beiers polyglotten "Sturm" aus Köln, einen "Hamlet" aus dem litauischen Vilnius und "König Artur", dramatic opera des Barockkomponisten Henry Purcell, eine Koproduktion von Oper und Schauspiel aus Marie Zimmermanns eigenem Stuttgarter Haus.

Die beiden Inszenierungen deutscher Stadt- und Staatstheater hatten ihre Besonderheit schon bei anderen Gastspielen unter Beweis gestellt.Alle Erwartungen hatten sich auf den letzten Festivalbeitrag gerichtet: eine in Vorberichten hochgerühmte, in Deutschland erstmals zu sehende Aufführung des bereits in den späten achtziger Jahren seit seinen aufsehenerregenden Tschechow-Inszenierungen im niedergehenden Sowjetstaat als Wunderregisseur gehandelten Eimuntas Nekrosius: "Hamlet" auf Litauisch, "Hamlet" aus dem litauischen Vilnius.

Es regnet jeglichen Tag in diesem Stück, aber nicht diesen auf unseren Bühnen dank der neuen Technik so schönen Norm-Regen.Nein, es sind die unangenehmen Eisregen, unverhofft beginnend und wieder endend, die wir, wenn sie uns in unseren Breiten einmal stechend entgegenschlagen, ganz persönlich nehmen, so wie sie in Helsingör auch für Hamlet persönlich ausgedacht scheinen.Da schlagen Horatio und die anderen Wachen, als sich ein unsichtbarer Geist dem Schloß zu nähern scheint, wild und richtungslos in die Nacht.Sie wollen ihn, hilflos aggressiv, verscheuchen.

Da wird weniger gesprochen als gehandelt.Der 1952 geborene Bauernsohn Eimuntas Nekrosius aus dem Norden Litauens ist ein Regisseur der rätselhaften Bilder, nicht der psychologischen Figurenerkundung.Auf seiner Bühne stehen ausrangierte Maschinen und Wagen im Halbdunkel, die ihm zu jeglicher Assoziation und martialschen Aktion taugen.Das neue Königspaar hat schuldgezeichnet schwarze Blätter im Mund, wenn Hamlet, aus Wittenberg zurückgekehrt, nach seinem toten Vater fragt.Sein Onkel Claudius, der Brudermörder und Usurpator, und die Mutter Gertrud haben hündisch hechelnde und bellende Menschen als Untertanen neben sich und verdrängen die Fragen nach Hamlets Vater mit lautem Lachen und gebleckten goldüberkronten Gebissen.

Hamlet steht benommen da, mit nackten Beinen, denn seine schwarze lange Hose ist ihm auf die Schuhe heruntergerutscht.Die Mutter tuschelt gehetzt auf ihn ein, während sie vergebens versucht, ihm die Kleidung wieder zu richten.Doch er gebärdet sich wie ein Kind, das nicht gehorchen will.Oft bestimmen Kleinigkeiten die Szene: Horatios geschwärzter, unheilweisender Arm unter weißem Hemd, wenn er Hamlet vom Geistererlebnis berichtet, oder unmotiviert aus den Gassen rollende Kugeln, größer als auf der Kegelbahn.Wenn Ophelia erstmals auftritt, um Laertes zu verabschieden, ist das ein einziges Mal ein freundlicher Anblick.Mit grünem Chiffonkleid und rotem Kopftuch ist sie ein ausgelassenes Huhn.Auf einem in Form eines Schiffsrumpfes gebauten, fahrenden Schrankkoffer hockt sie und raucht Pfeife.

Es regnet natürlich wieder, wenn der Geist seines Vaters Hamlet den Mordbefehl erteilt.In dickem Pelz erscheint er.Wo immer er Platz nimmt, versucht ihn der Sohn zu fassen.Vergebens.Bis der Geist selbst mit einem Eisbarren dem Widerstrebenden Füße, Hände, Gesicht und Kopf so lange und intensiv einreibt, bis der Sohn quasi cool genug ist, um sich seiner Aufgabe zu stellen.Während der Vater-Geist seine Ermordung schildert, ringt der Sohn mit dem kalten Eisblock in seinen Händen, die ihm der väterliche Geist hernach noch warmleckt.Der Sohn läßt schließlich den Eisblock fallen.Der zerstiebt und gibt den darin eingefrorenen Dolch frei.

Der Geist, bevor er verschwand, hatte im Hintergrund der Bühne noch die Lehne eines Thronsessels in Flammen gesetzt, an denen sich Hamlet nun die Hände wärmen kann.Später erscheint der Vater nochmals und befestigt an einem Kreissägeblatt, das den ganzen Abend über als Menetekel von der Decke hängt, einen riesigen, mit Kerzen bestückten Kandelaber, den - neben heißen Kerzen - eisige unförmige Eiskristalle schmücken, langsam in der Wärme schmelzend, tropfend, Hamlets Mut und Zeit einklagend.

Meist gibt der Regisseur, wir können es wegen der litauischen Sprache nicht recht beurteilen, den Bildern den Vorzug gegenüber Shakespeare verbalen Argumenten.Als Hamlet der Schauspieltruppe die Mörderszene erklärt, häuft er auf großen Papieren Staub an und bläst ihn den drei Schauspielern unvermittelt ins Gesicht.Dann legt er ihre Gesichter behutsam unter drei Stühle, auf deren Sitzflächen er Kerzen entzündet.

Die Schauspieler aus Vilnius lassen sich in jedem Fall auf die kräftigen Bilder ein, in denen sie agieren.Aber sie spielen grobflächig, bar jeder herausragenden, unverwechselbaren Einzelleistung.Oft scheinen zwei, die sich gegen die Kälte in einen dicken Pelz gehüllt haben, oder alle zusammen, die beim Duell zwischen Laertes und Hamlet mit ihren Degen rhythmisch die Luft peitschen, gleichfalls zu maschinenartig rätselhaften Requisiten geworden wie sie sonst auf der Bühne vorherrschen.Auch der Hamlet des Hauptdarstellers Andrius Mamontovas macht da nur eine kleine Ausnahme, weil er den noch jeseits des Wahnsinns verhuschten, sein Schicksal erlauernden Prinzen spielen darf.

Anfangs hatte mitten an der Rampe eine bunte Trommel gestanden.Auf diese trommelt nach vier Stunden auch beim blutigen Finale nun wieder der Regen.Bis Hamlet, letzte Anstrengung vor dem Tod, diese an sich zieht.Der Rest ist Schweigen.Und so ist an diesem Wochenende das zum vierten Mal in Brauschschweig / Hannover veranstaltete internationale Festival "Theaterformen" mit einer mehr bildhaften als psychologisch oder sprachlich reichen Aufführung zuende gegangen.

LUDWIG ZERULL

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