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Überbordende Fabulierlust. Die 1981 in Odessa geborene Schriftstellerin Marjana Gaponenko.

© Ekko von Schwichow/Verlag C.H. Beck

"Der Dorfgescheite" von Marjana Gaponenko: Schau heimwärts, Engelchen

Marjana Gaponenko versucht mit ihrem klugen und turbulenten Bibliothekarsroman "Der Dorfgescheite" an Gott vorbeizukommen, scheiter dabei aber.

Am Ende dankt die Schriftstellerin Marjana Gaponenko unter anderem dem Augustiner-Chorherrenstift Klosterneuburg – und ihrer einäugigen Katze Lilly. Einäugig ist auch der Held von Gaponenkos Roman „Der Dorfgescheite“, der Mediävist, Bibliothekar, Sammler, Katalogisierer und heimliche Gottsucher Ernest Herz. Er hat sich, erschöpft und enttäuscht von seinem ausschweifenden Liebesleben, als Leiter der Bibliothek ins „Stift W.“ gerettet, einen verwunschenen und geheimnisvollen, wie Franz Kafkas Sterbeort an der Donau gelegenen Schauplatz skurriler Geschehnisse. Aber das weiß der „Dorfgescheite“ noch nicht, wenngleich er ahnt, dass es mit einer beschaulichen, ganz dem Geist und den alten Büchern gewidmeten zweiten Lebenshälfte nichts Rechtes werden wird: „Nun heißt es, sich sammeln, ora et labora, Sodom und Gomorrha.“

Pünktlich zum elften November, dem Martinstag und Beginn des Karnevals, nimmt die Romanfarce Fahrt auf, und rasch gerät man hinein in einen theologisch fundierten Klosterkrimi, der auch eine Eltern-Sohn-Geschichte ist und eine Migrationsgeschichte dazu. Nicht nur Kafka und Umberto Eco lassen grüßen, auch ein verdächtiger Pudel spukt herum, und nicht ohne Hintersinn zieht ein Dampfer mit der Aufschrift „Ukraina“ vorüber.

Marjana Gaponenko, 1981 in Odessa geboren und heute meist in Wien lebend, ist seit ihrem preisgekrönten, 2012 veröffentlichten Roman „Wer ist Martha?“ als ernsthafte Schriftstellerin ohne jede Angst vor Kitsch und Kolportage bekannt. „Der Dorfgescheite“ bestätigt diesen Ruf. Ernest Herz stellt bald fest, dass seine Vorstellungen von einer zeitgemäßen Bibliothek vom undurchsichtigen Stiftsprälaten und dessen abgründigem Personalchef Schmalbacher nicht geteilt werden, dass sein Telefunken-Gerät nur noch „Radio Gabriel“ empfangen kann und dass der spektakuläre Suizid seines polnischen Vorgängers Mrozek eine äußerst merkwürdige Vorgeschichte hatte.

Es gibt viele Rausch- und Traumsequenzen in diesem Roman

Irgendwie hängt sie zusammen mit dem „Dialogus miraculorum“ (1219–1223) des Caesarius von Heisterbach, einem Bestseller des Mittelalters, in dem die Darstellungen des Bösen und Unheimlichen, des Lasters und der Hölle die des Erfreulichen und Heiteren überwiegen. Im Aschekasten seines Kachelofens findet Herz ein wertvolles Exemplar dieses Werks, das sein Vorgänger irgendwo entwendet und mit der Inschrift „Lammengel, heile einen blinden Sünder!“ versehen hat. Damit kommt das zwischen Bordell und Pilgerherberge gelegene Gast- und Likörhaus „Zum Lamm“ ins Spiel. Weiß der junge, scheue Kellner Raphael, schön wie ein Erzengel und in sich eingemauert wie ein Autist, mehr über den „Dialogus“ des Mönchs von Heisterbach und das grausame Ende des ihm verfallenen Mrozek?

Immer mehr vernachlässigt Ernest Herz seine Bibliotheksarbeit, immer öfter hängt er im „Lamm“ herum, immer häufiger werden die Rausch- und Traumsequenzen im Text. Ist der lebenslang seiner katastrophalen Kindheit und Jugend nicht wirklich entronnene „Dorfgescheite“, der mit seinen in der Seniorenresidenz „Zur barmherzigen Dreieinigkeit“ dahindämmernden Eltern immer noch nicht fertig ist, ähnlich verrückt geworden wie sein buckliger Vorgänger?

Gaponenko behält den Überblick und führt ihren Roman mit eleganter, alle Hauptmotive plausibel bündelnder Konsequenz an sein dann doch unerwartetes Ende. An dem auch klar wird, dass es mit der Einäugigkeit des Protagonisten mehr auf sich hat, als die triviale Erklärung „Silvester 1985, Böller trifft Kind“ besagt, und dass dieser Bibliothekarskrimi auch – wie ein Aufsatz von Ernest Herz in der fiktiven Kulturzeitschrift „Spiritus“ – den Titel „Wann das Heilige uns für immer verlässt“ tragen könnte.

"Der Dorfgescheite" ist ein intelligenter Unterhaltungsroman

Schon Gaponenkos vor zwei Jahren erschienenem Roman „Das letzte Rennen“ wurden abseitige Schauplätze und sein scheinbar randständiges Sujet vorgeworfen. Dem „Dorfgescheiten“, diesem intelligenten Unterhaltungsroman für NichtEinäugige, könnte es ähnlich ergehen. Doch so ist es eben: Vor Überraschungen ist man bei dieser Autorin nie sicher. Ihre überbordende und dennoch sorgsam kalkulierte Fabulierlust ist geblieben, ebenso ihr sensationelles Talent zur knappen Figurenzeichnung. Ihr schräger, süffisanter Witz und ihr genauer Blick für haarsträubende Details haben hier noch einmal eine ganz neue Qualität.

Und die Ernsthaftigkeit? „An Gott kommt keiner vorbei“, konnte man in den sechziger Jahren, als der legendäre Schalker Rechtsaußen „Stan“ Libuda noch spielte, in der Gelsenkirchener Glückauf-Kampfbahn lesen. „Außer Libuda“. Marjana Gaponenko hat versucht, an Gott vorbeizukommen. Aber sie blieb hängen – zum Glück für alle, die ebenfalls auf der Suche sind und sich mit gängigen Übereinkünften nicht abfinden wollen.

Marjana Gaponenko: Der Dorfgescheite. Ein Bibliothekarsroman. C.H. Beck Verlag, München 2018, 287 Seiten, 22 €.

Klaus Hübner

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