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Kultur: Der einäugige Kanzler

Jonathan Steinbergs Bismarck-Biografie: viel demokratischer Furor.

Der Begründer des Deutschen Reiches und erste Reichskanzler Otto von Bismarck feiert in zweieinhalb Jahren, am 1. April 2015, seinen 200. Geburtstag. Für biografische Würdigungen ist es deshalb noch etwas früh. Und doch hat ein Amerikaner, Jonathan Steinberg, schon einen Anfang gemacht. Das ist schon deshalb ein kühnes Unterfangen, weil nach Pflanze, Engelberg und Gall, um nur die drei bedeutendsten Bismarck-Biografen zu nennen, nicht viel ungesagt geblieben ist. Die Archive sind geöffnet, die Memoiren-Bände längst ausgewertet und auch Bismarcks Einschätzung hat sich von der borussischen Heldenverehrung über den Vorläufer Adolf Hitlers wieder auf Normalmaß eingependelt – eine große historische Figur des 19. Jahrhunderts, aber eben weder makelloser Held noch politischer Verbrecher. Jedenfalls werden Bismarckstraßen noch nicht umbenannt, wie es nun Hindenburg in Münster widerfahren ist.

Dass Bismarck nicht mit den Maßstäben eines politisch korrekten, demokratischen Zeitalters zu messen ist, hat sich wohl herumgesprochen. Und dass Adolf Hitler kein geistiger Nachfahre des ersten Kanzlers war, haben ausgerechnet angelsächsische Historiker, zuletzt Christopher Clark mit seinem Preußen-Buch, den verstörten Deutschen vermittelt. Insoweit ist das Buch des Amerikaners Steinberg eher ein Rückschritt. Doch zuerst zum Positiven. Was man nach den akribischen Forschungen der früheren Bismarck-Biografen kaum noch für möglich halten würde, ist Steinberg gelungen: alle möglichen, auch entfernteren Zeitzeugen, Beobachter und ungenutzte Quellen wie ein Puzzle zusammenzusetzen und so der Persönlichkeit Bismarcks eine zusätzliche Farbigkeit zu geben, wie es eben nur private Quellen und nicht die amtlichen Verlautbarungen vermögen.

Das ist verdienstvoll, wenn es auch nichts Neues ergibt. Dass Bismarck aus ganz unterschiedlichen Facetten zusammengesetzt war und neben dem genialischen Diplomaten und Staatsmann der innenpolitische Wut-Berserker steht und neben dem charmanten Gesellschafter der Leuteschinder und Haustyrann, der noch die große Liebe seines Sohnes mit der Drohung seines Selbstmordes zerstörte, wissen wir längst. Bismarck war nur von einem Menschen überzeugt – von Bismarck – und hielt diplomatische Helfer, Abgeordnete, ja selbst die Frau des Kaisers und erst recht die Kronprinzessin für Störfaktoren, die man mal mit Wutanfällen und Intrigen, mal mit Schmeichelei unschädlich machen musste.

Bismarck sah in Menschen, vielleicht mit Ausnahme seines Kaisers und des entfernteren britischen Premiers Benjamin Disraeli, nur Werkzeuge und entsprechend behandelte er sie. Dass er auch anders konnte, belegt seine lebenslange Freundschaft zu einem englischen Studienfreund. Man liest dies alles mit der Einsicht Talleyrands über seinen Kaiser, den ersten Napoleon: Schade, dass ein so großer Mann so schlechte Manieren oder besser noch einen so schlechten Charakter hat.

Problematisch wird diese Charakterstudie dort, wo sie die Ziele Bismarcks tangiert. Denn während der Autor sehr wohl die politische Meisterschaft eines Mannes würdigt, der die Einbettung des neuen Deutschlands in die europäische Mächtekonstellation meisterte, urteilt er über Bismarcks Ziele verächtlich und vernichtend: „Seine Fähigkeiten hatten kein Ziel außer der Aufrechterhaltung eines antiquierten Halbabsolutismus – und seine eigene Zufriedenheit.“ Das aber unterschätzt gewaltig die Tatsache, dass Europa und damit auch Deutschland nach den Einigungskriegen zu Lebzeiten Bismarcks in Frieden lebte und erst seine Nachfolger eben die Fehler begingen, die Bismarck klug zu vermeiden wusste – wie den Bruch mit Russland –, was bekanntlich in den Ersten Weltkrieg führte. Und die finessenreiche Friedenspolitik Bismarcks diente eben nicht nur einem „antiquierten Halbabsolutismus“, sondern dem Wohlstand und Frieden auch der sozialdemokratischen Arbeiter. Hier dringt zu viel demokratisch-amerikanischer Furor in ein sonst ausgewogenes Bismarck-Bild. Denn dass der Reichskanzler, so der Autor, eine außenpolitische Paranoia plagte, die aus dem Gefühl erwuchs, einer Klasse ohne Zukunft anzugehören, kann nur behaupten, wer die Mitspieler von Gortschakow in Russland über Gladstone und Salisbury in England bis hin zu dem schillernden Boulanger in Frankreich außer Betracht lässt und Paranoia als Sorge vor dem Zweifrontenkrieg definiert, der lange nach Bismarcks Abgang Deutschland schließlich bezwang.

Denn eben das war der Fehler aller seiner Nachfolger von Bülow über Bethmann-Hollweg bis hin zum letzten deutschen Kaiser, dass sie die Gefährdungen Deutschlands, die Bismarck schlaflose Nächte bereiteten, gar nicht erst sahen. Die Folge davon war die Katastrophe von 1914. Unter manch’ Blinden in Europa war der einäugige Bismarck immer noch ein König.











– Jonathan Steinberg:
Bismarck. Magier der Macht. Propyläen Verlag, Berlin 2012. 752 Seiten, 29,99 Euro.

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