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Kultur: Der Erlkönig

Wiese statt Hügel: Gustav Kuhn erfüllt sich im Tiroler Hinterland einen Traum und bringt Wagners ganzen Ring auf die Bühne

Erl ist anders. Anders als der sommerlich festspielglänzende Rest Österreichs und ganz anders als Bayreuth, natürlich (kein „mystischer Abgrund“! Keine Bratwürste!). Denn Erl ist Gustav Kuhn, und Gustav Kuhn ist Erl: Jener legendäre Swarowsky- und Karajan-Schüler, der, wie böse Zungen sagen, seinen Durchbruch Mitte der achtziger Jahre erzielte, als er dem Intendanten der Bonner Oper Jean-Claude Riber während einer Pressekonferenz eine Watsch‘n verpasste. Kuhn war damals Generalmusikdirektor am Rhein und längst auf den Podien dieser Welt zugange. Dann aber wurde es still um ihn, er galt als schwierig, als unbequem. Einer, der sich nur zu gern und vergeblich an den Unpässlichkeiten des deutschen Theatersystems rieb.

Kuhn zog sich nach Italien zurück, leitete ein paar Jahre das Festival von Macerata und rief 1997 schließlich die Tiroler Festspiele Erl ins Leben. Es sei längst an der Zeit, hat er vor Eröffnung dieser Saison verlauten lassen, dass die Salzburger Festspiele ihn einmal wieder bitten würden – und zwar nicht als Einspringer für die Herren Maestri X oder Y, sondern ganz einfach als Gustav Kuhn. So lange dies nicht passiere, bleibe er, wo er sei: an der Peripherie des Kulturbetriebs. Zum Beispiel in Erl. Das mache mehr Sinn.

Mögen in dem kleinen Grenzort zwischen Oberbayern und Tirol auch seit 1613 Passionsspiele stattfinden, mögen sie hier also alle sechs Jahre unter tatkräftiger Mithilfe des halben Dorfes ihren Heiland zu Grabe tragen, und mag das neue Passionsspielhaus (1500 Plätze, erbaut 1959) darüberhinaus wie ein gleißender Reißzahn, ja wie eine Haifischflosse ins Inntal grüßen - im Juli gehört Erl Richard Wagner und den Wagnerianern. Und die nehmen für ihre Passion einiges in Kauf. Das Auto muss auf weit abgelegenen Feldern oder an bedenklich abschüssigen Bachläufen geparkt werden und drinnen, unter der (akustisch hervorragenden!) rohen Holzkonstruktion des Baus, schrauben sich die Temperaturen von Akt zu Akt in immer schweißtreibendere Höhen. Aber was ist dies alles gegen das Versprechen, auf der grünen Wiese erstmals den ganzen „Ring“ erleben zu können - und das in gut zwei Wochen gleich zweimal? Mit einem erfrischend jugendlichen Orchester und unverbrauchten, wagnerjungen Stimmen? Nichts, natürlich, und das wissen auch die Schafe, die gleich neben dem Aufgang des Passionsspielhauses wohlig mümmelnd im Schatten dösen.

Gustav Kuhn ist hier Präsident des örtlichen Festspiel-Vereins, künstlerischer Leiter, Dirigent und Regisseur in Personalunion. Der König von Erl. Er dirigiert diesen „Ring“ also nicht nur, er hat ihn auch eigenhändig in Szene gesetzt. Wagner für alle, Kuhn für alles? Karajanesker Größenwahn ist das eine, was man dahinter vermuten könnte. Eine Kriegserklärung an Bayreuther Werktreue und Sitte das andere. Da das Erler Passionsspielhaus nämlich über keinen rechten Orchestergraben verfügt, thronen die Musiker allesamt auf einer riesigen Tribüne im Bühnenhintergrund. Das heißt: Wagners Prinzip des „mystischen Abgrunds“, die einzelnen Gruppen des Mischklangs wegen im Graben stufenartig nach unten zu postieren, es wird hier radikal auf den Kopf gestellt. Ein Sakrileg, eine wirkungsästhetische Untat? Ja und nein. Einerseits sorgt das „sichtbare Orchester“ zwangsläufig für Ablenkung, wenn es hinter seinem mal mehr, mal weniger bonbonbunt beleuchteten Gazeschleier nämlich unablässig funkelt und blitzt, säbelt und auf die Pauke haut, oder wenn sich dort Kuhns massige Silhouette regt. Andererseits birgt dieses Notarrangement eine atemberaubende Chance - die der Regisseur Kuhn weder nutzen kann noch will. Die Musik, sagt das Arrangement, ist selbst das Drama, der Zuschauer ist jederzeit Herr seiner Sinne und sieht hörend, hört sehend, was ihn in den Wagner-Rausch treibt. Ein dialektisches Konzept, wenn man so will, Verführung durch Desillusionierung. Allein, Kuhn scheint das Ganze eher von der praktischen Warte aus zu betrachten, als Lösung für ein an sich unlösbares Problem. Ein einziges Mal in der „Walküre“, zu Brünnhildes Feuerzauber im dritten Akt, ergreift er die Chance und steckt die sechs Harfenistinnen, die Loges Funken sprühen lassen, in flammend rote Gewänder, auf dass diese die schlafende Brünnhilde (Elena Comotti D‘Adda) flankieren. Ein Bild mit Brecht-Gardine und hart am Kitsch, aber dennoch richtig, weil konsequent gedacht.

Ansonsten wusste man nicht so recht, ob man es szenisch mit armem Theater zu tun hatte oder mit galoppierendem Laienspiel. Während die großen Zweierszenen zwar hölzern, aber glaubwürdig wirkten, sah Kuhn sich an anderen Stellen offenbar genötigt, die Flucht nach vorn anzutreten: Wenn sich am Ende des ersten Aktes aus einem Wäschekorb (!) und wie von Zauberhand ein riesiges Zelt über das geschwisterliche Liebespaar Siegmund (Peter Svensson) und Sieglinde (Gertrud Ottenthal) spannt, oder wenn Wotan (Duccio Dal Monte) mit einem blöden Pappauto zum Hinstellen auftritt und Fricka in Lederkluft (Martina Tomcic), entsprechend, mit einem Pappmotorad. Wer allerdings befürchtet hatte, die orchestrale Klangtribüne würde alles und jedes unter sich begraben, sah sich getäuscht und erleichtert. Denn obwohl das Holz einen schweren Stand hatte und die Koordination mit den Sängern via Monitor anfangs durchaus zu wünschen übrig ließ, dirigierte Kuhn eine süffige, unverkrampfte, dynamisch zurückhaltende und nur in den Tempi bisweilen ein wenig bräsige „Walküre“. Ein Lob auf solche Textverständlichkeit, solch engagiertes Zupacken! Am Ende: Bouquets, Ovationen. Und hinaus in die Tiroler Nacht, wo Grillen zirpen und Sterne lachen.

Christine Lemke-Matwey

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