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Kultur: Der erste Grüne

Zum Tod des Schriftstellers und Kapitalismuskritikers Carl Amery

Die Kapitalismusdebatte begann für Carl Amery vor einem halben Jahrhundert, als sich abzeichnete, dass es so etwas wie Kapitalismus wieder geben würde in einem Teil von Deutschland. Und noch einen Tag vor seinem Tod am 24. Mai gab der 83-jährige bekennende Christ, den man öfter mit dem aparten Etikett „Linkskatholik“ bedachte, der Katholischen Nachrichtenagentur ein Interview zu seinem Lebensthema: „Die ganze Kapitalismusdebatte ist absolut oberflächlich. Stattdessen brauchen wir grundsätzliche Überlegungen zu dem faustischen Pakt, den wir mit dem Kapitalismus haben.“ In seiner letzten Widerrede gegen den „Mammonismus, diese Bestie unserer Zeit“ schwingt jesuanischer Zorn mit. Vielleicht auch eine Spur Exorzismus.

Seine theologische Bildung und Sensibilität, seine kirchenkritikische Perspektive aus dem Glauben an die Ursprünge der christlichen Überlieferung, ließ ihn pseudoreligiöse Dynamiken früher und schärfer sehen als andere. „Kapitalismus als Religion“ – so heißt ein Text von Walter Benjamin, den Amery in einem seiner letzten Bücher weiterdachte („Global Exit. Die Kirchen und der Totale Markt“, 2002). Und „Kapitalismus als (falsche) Religion“ könnte als Motto über seinem Lebenswerk stehen.

Dass Amery als konservativer Rebell dennoch keine revolutionären Ambitionen hatte, sondern vielmehr den überzeugten Reformatoren aller Zeitläufte zuzurechnen ist, las man auch in seinem jüngsten Buch „Briefe an den Reichtum“, in dem er Briefe von engagierten Intellektuellen – von Oskar Negt bis Rupert Neudeck – an prominente Reiche – von Oliver Kahn bis Horst Köhler – versammelte und ein luzides Vorwort schrieb. Darin unterschied er mit Aristoteles zwischen dem ursprünglichen Sinn von „Ökonomie“ – der Sorge für das große Ganze, zu der fairer Handel und die Pflege der Lebenswelt des Menschen gehören – und der „Kapiliké“, der egoistischen Anhäufung von Reichtum. Den Unterschied macht ein Sinneswandel und keine Revolution. Damit war er um einen entscheidenden Moment subtiler als Neo-Marxisten wie Antonio Negri oder Neo-Manichäer wie Giorgio Agamben, die philosophischen Heiligen der Attac-Bewegung.

Christian Anton Mayer, geboren 1922 in München, taufte sein Schriftsteller-Ich Anfang der 1950er-Jahre auf das Pseudonym Carl Amery. Von 1943 bis 1946 war er in amerikanischer Kriegsgefangenschaft und setzte sich in ersten Publikationen leidenschaftlich gegen die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik ein. 1954 debütierte er mit dem gesellschaftskritischen Roman „Der Wettbewerb“, als das Wort Gesellschaftskritik noch nicht erfunden war. 1955 las er zum ersten Mal bei der „Gruppe 47“. Sein zweiter Roman „Die große deutsche Tour“ ist eine bissige Satire auf die junge Wohlstandsrepublik. Seine Streitschriften gegen den Katholizismus und die koloniale Dynamik des Christentums sind globalisierungskritisch ante litteram und brachten ihm zusammen mit Heinrich Böll und Rolf Hochhuth die Ehre ein, in einem Hirtenbrief verurteilt zu werden.

Als bester Roman Amerys gilt der 1974 erschienene, bizarr-ironische Science-Fiction „Das Königsprojekt“, in dem der Vatikan mittels einer Zeitmaschine versucht, die Weltgeschichte zu seinen Gunsten nachträglich zu manipulieren. Dieser und andere fantastische Romane Amerys – wie „An den Feuern von Leyermark“ (1979) und „Die Wallfahrer“ (1986) – sind genauso Nachfolger des großen Satirikers Jonathan Swift wie alteuropäische Vorläufer des Cyber-Punks von US-Autoren wie Neil Stephenson.

In den letzten Jahren trat der Romancier Carl Amery gegenüber dem Essayisten und Querkopf in den Hintergrund. 1998 provozierte Amery, der als SPD-Mitglied mit Grass und anderen Wahlkampf gemacht hatte, 1974 wegen Helmut Schmidt aus der Partei austrat und von Anfang an bei den Grünen dabei war, mit dem Buch „Hitler als Vorläufer. Auschwitz – der Beginn des 21. Jahrhunderts?“. Darin analysierte er die NS-Ideologie als pervertierte Vorform des ökologischen Bewusstseins, einer mörderischen Nachhaltigkeits-Politik. Und: Auschwitz drohe sich zu wiederholen, wenn Entscheidungsträger zu der Auffassung gelangten, dass das Überleben der Gattung Mensch auf dem Spiel stehe. Gegen die düsteren Seiten der Ökologie verteidigte er ihre Hoffnungen: Wir brauchen eine „durch Wissen und Demut geläuterte Solidarität mit der Biosphäre (...) Der Mensch kann die Krone der Schöpfung bleiben – wenn er begreift, dass er sie nicht ist.“

Noch vor einem Vierteljahr, zum 25. Geburtstag der Partei, schrieb er seinen Grünen in der „Frankfurter Rundschau“ ein genauso liberales wie fundamentales 12-Punkte-Programm ins Stammbuch und mahnte sie energisch, über den neoliberalen Versuchungen nicht die grünen Wurzeln zu vergessen.

Wie erst jetzt bekannt wurde, ist Carl Amery vor einer Woche in München gestorben. Gestern wurde der bayerische Rebell in seiner Heimatstadt beerdigt.

Marius Meller

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