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Kultur: Der erste Realist

Das Arsenal-Kino feiert Indiens Regiemeister Satyajit Ray mit einer Retrospektive

Von Peter W. Jansen

Er könnte das Kino erfunden haben. So wenig wusste er vom Filmemachen, als er damit anfing. In London hatte der Wirtschafts- und Physikstudent, der anschließend bei Rabindranath Tagore Malen und Zeichnen lernte, Vittorio de Sicas „Fahrraddiebe“ gesehen und dann bei Jean Renoir assistiert, als der in Indien „Der Strom“ drehte. Das genügte nicht nur, ihn das Kino als sein Ding erkennen zu lassen, es machte ihn auch zum ersten Realisten des indischen Films.

Bis dahin war das indische Kino nichts anderes als die Verfilmung von Theater und Tanz und Gesang. Da mit dieser Sorte Showbizz – Indien war eine Zeit lang das produktivste Filmland der Welt – Milliarden Rupien zu machen waren, konnte der mittlerweile schon über 30-jährige Ray keine der rund tausend Produktionsfirmen für die absurde Idee gewinnen, einen Film zu finanzieren, der sich mit dem Alltag auseinander setzen wollte. Schlimmer noch: Er wollte in einem Land mit ausgeprägtem Starsystem und Starkult nur mit Laiendarstellern arbeiten, eben wie die italienischen Neorealisten.

So machte Satyajit Ray, 1921 in Kalkutta geboren und von Hause aus Buchillustrator und Leiter einer Werbeagentur, alles selbst. Fast alles. Er trieb das Geld bei Freunden auf und bei der Regionalregierung Bengalens. Und er hatte Glück. Das Glück, in dem Amateurfilmer Subrata Mitra einen kongenialen Kameramann zu finden, mit Bansi Chandragupta einen erfindungsreichen Ausstatter und in dem Sitar-Meister Ravi Shankar den Musiker, der mit indischer Musik noch so weltberühmt werden sollte wie er selbst mit seinen Filmen. Vor allem die Filme der frühen Jahre tragen das Siegel dieser Gruppe. Bis Ray, ab „Ferner Donner“, nicht mehr nur die eigenen Drehbücher schrieb und für die Produktion verantwortlich zeichnete, sondern auch seine eigene Musik komponierte.

Mit seiner „Apu“-Trilogie aus den Fünfzigerjahren („Pather Panchali“, „Aparjito“, „Apu sansar“) eröffnet das Arsenal-Kino gut zehn Jahre nach Rays Tod nun eine große, überfällige Werkschau, mit 25 seiner knapp 40 Filme im Rahmen der Asien–Pazifik-Wochen. Die Trilogie machte ihn auf einen Schlag zu einem der bedeutendsten Regisseure in der Weltgeschichte des Kinos. Es gab Preise in Cannes und Venedig (Goldener Löwe 1957 für „Aparjito“), denen Mitte der Sechziger zwei Silberne Bären in Berlin folgten, für „Mahanagar“ und „Charulata“.

In den „Apu“-Filmen, die das Schicksal einer Kleinfamilie von Schriftstellern schildern, war die Gesellschaftskritik am Kastensystem noch verhalten gewesen. In Rays späteren Filmen gewann sie an Schärfe, zumal was die Stellung der Frau angeht. Da gibt es verheiratete Frauen aus dem Mittelstand, die die Familie zu ernähren versuchen, und andere aus höherem Stand, die in der Ehe vernachlässigt werden, mag der Mann noch so politisch engagiert sein.

Schon mit „Devi“ (Die Göttin) hatte Ray einen fulminanten Angriff auf die Religion, genauer: den religiösen Fundamentalismus und den hysterischen Aberglauben unternommen. Aber so sehr seine Kritik auch an Rigorosität zunahm, so treu blieb er seinen Wurzeln verhaftet und dem Quell seiner Inspiration. Seine bewegendsten Filme sind Werke der Ambiguität zwischen Tradition und unvermeidlichem Fortschritt. Die fanatischen „Schachspieler“ von Lucknow („Shatranj ke khilari“, 1977 ) lassen sich nicht beirren durch die Erschütterungen, die das Land unter britischer Herrschaft erfährt. Und Biswambhar Roy, der Opium rauchende, somnambule Großgrundbesitzer, opfert in „Jalsaghar“ (Das Musikzimmer) den Rest seines Vermögens für die Inszenierung eines letzten Konzerts traditioneller Musik, während draußen, außerhalb seines verfallenden Palastes, die indische Kultur westlich überfremdet wird. Man hat diesen Film zu Recht in eine Reihe mit Viscontis „Leopard“ gestellt – auch wenn Ray, verglichen mit seinem italienischen Kollegen, ein Minimalist ist.

Mit wenigen Mitteln, sparsamem Dekor, unauffälliger Kameraführung, unaufdringlicher Montage, hat Satyajit Ray, zuerst in Schwarzweiß, dann auch mit Farbfilmen, den höchsten ästhetischen Mehrwert erzielt. Aber man kann auch bei ihm erfahren, dass das Kino ein Fest der Augen ist: der Augen, die auf den Film blicken, und der Augen, die uns aus dem Film ansehen. Sie sind unvergesslich, die tiefbraunen großen Augen des kleinen Subir Banerjee als Apu, die hellwach in die Zukunft schauen. Und ebenso die träumenden Augen von Chhabi Biswas als Biswambhar Roy, der im „Musikzimmer“dem Untergang seiner Welt entgegendämmert. Vielleicht sieht er schon, wie am Horizont der Planet Bollywood aufsteigt.

Kino Arsenal im Filmhaus (Potsdamer Str. 2), Tel. 030/26955100, bis 30.September. Im Oktober soll die Reihe fortgesetzt werden.

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