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Kultur: Der erste Roman des Lyrikers Jürgen Becker

Jürgen Becker, seit seinen lyrischen Anfängen der "Felder" und "Ränder" aus den sechziger Jahren ein tastender Grenzgänger zwischen Lyrik und Prosa, hat 1997 erstmals eine Erzählung veröffentlicht: "Der fehlende Rest". Darin zeichnet während einer verschneiten Winternacht der anonym bleibende Ich-Erzähler im Bauernhaus seines imaginierten Begleiters, eines gewissen Jörn, dessen Erinnerungen auf, Erinnerungsversuche an Kindheit und Jugend, an Landschaften und Orte wie Bergisches Land und Thüringen, Köln und Erfurt.

Jürgen Becker, seit seinen lyrischen Anfängen der "Felder" und "Ränder" aus den sechziger Jahren ein tastender Grenzgänger zwischen Lyrik und Prosa, hat 1997 erstmals eine Erzählung veröffentlicht: "Der fehlende Rest". Darin zeichnet während einer verschneiten Winternacht der anonym bleibende Ich-Erzähler im Bauernhaus seines imaginierten Begleiters, eines gewissen Jörn, dessen Erinnerungen auf, Erinnerungsversuche an Kindheit und Jugend, an Landschaften und Orte wie Bergisches Land und Thüringen, Köln und Erfurt.

In abgewandelter Form nimmt Becker diese Ausgangssituation, ihre Hauptakteure und die Motive wieder auf in seinem ersten Roman "Aus der Geschichte der Trennungen": Wiederum schreibt ein Ich-Erzähler, der im Schloss des brandenburgischen (Künstler-)Dorfes Wiepersdorf wohnt, die Erinnerungen des ebenfalls dorthin gereisten Jörn auf; diesmal freilich nicht in einer Winternacht, sondern während einer Woche im August 1996. Fünfzig Jahre zuvor hatte hier im achtzig Kilometer entfernten Schwieloch-See Jörns Mutter den Tod gefunden, ein Selbstmord, der Jörn traumatisiert und seither die Quellen seiner Erinnerung verschlossen hat.

Jürgen Becker, der 1964 in dem fundamentalistischen Essay "Gegen die Erhaltung des literarischen Status quo" Plot und Figurenpsychologie als Erzählformen verabschiedete und noch in "Der fehlende Rest" von seiner "Unlust oder auch Unfähigkeit, sein Erzählen mit einem Plot zu versehen", spricht, benötigt in seinem Roman gar keinen Plot. Die abwechslungsreiche und spannende "Handlung" bilden sowohl Jörns Biographie als auch die - wie bei den verwandten Autoren Dieter Forte und Uwe Johnson - am Leitfaden der Chronologie mit ihr verschränkte Zeitgeschichte.

Eigentlicher Akteur dieser Prosa ist der ununterbrochene, sich steigernde, in kreisenden, zum Teil schönen Sprachbildern sich vollziehende Versuch der Erinnerung, die Suche nach der Vergangenheit, nach verdrängter Zeit. In Gang gekommen ist sie 1989 durch den wachsenden Widerstand der DDR-Bevölkerung und den Mauerfall, den Jörn, im November 1989 zum erstenmal wieder in die DDR gereist, sprachlos und weinend in seinem Leipziger Hotelzimmer erlebt hat. Endlich konnte er sich wieder ein Mal mit dem politischen Lauf der Dinge eins fühlen. 1947, nach dem Tod der Mutter, hatte er als Vierzehnjähriger mit dem Vater nach Köln "rübergemacht". Danach hatte er die Erinnerung verweigert durch "weiße Flecken in seinem Gedächtnis" und alle Brücken zu "Ostzone" und Kommunismus abgebrochen - überzeugt von der Wahrheit des damals kursierenden Witzes: "Herrgott schenke uns das Fünfte Reich, denn das Vierte ist dem Dritten gleich." Auf der Leipzigreise 1989 drängte sich Jörns "ganz eigene Geschichte", die zuvor "wie durchgerissen und . . . .versiegelt und verblockt" war, wieder ins Bewusstsein. Ein Jahr später, am 3. Oktober, fuhr er hinein in die "verloren geglaubten Provinzen der Kindheit", nach Erfurt, wo der Vater, ein Ingenieur für Feuerlöschanlagen aus Köln, von 1939 an das mitteldeutsche Büro seiner Firma leitete.

Auf den Straßen der Stadt, in der er prägende Kindheitsjahre verbracht hat, sucht er nach vertrauten Gesichtern, geht er den alten Kinderwegen und Schauplätzen nach. Doch so leicht ist die untrügerische Erinnerung nicht herzustellen, denn häufig ist unklar, "ob ich beispielsweise die Jahre im Krieg erlebt habe, wie sie in meiner Erinnerung sind - oder ob sich in meine Erinnerung nicht alle die Geschichten hineingemischt haben, die Eltern und Verwandte . . . erzählt haben, die wir als Zeitgenossen, Zeitzeugen kennen". Projizieren wir auf das Unbekannte nicht das Bekannte, das Déjà vu? Ist man auf das Gedächtnis eines kleinen Jungen angewiesen, kann Erinnern, so Becker, "die reine Quälerei" sein.

Der 1932 in Köln geborene Autor, dessen Lebensdaten mit seinem alter ego, den Figuren Jörn und dem Ich-Erzähler, übereinstimmen, knüpft ein dichtes Erinnerungsnetz, indem er hin- und herspringt zwischen Gegenwart und Vergangenheit, zu den neu gesehenen Schauplätzen der Kindheit die Bilder von damals, der Kriegs- und Nachkriegsjahre von 1939 bis 1947, hinzuassoziiert. Ausgangspunkte dieser Reise ins Langzurückliegende sind immer wieder feingliedrige Landschaftsbeschreibungen, Wolkenfelder mit Bussard und Häher - epische Landschaftsmalerei der Mark Brandenburg, des Niederen Fläming und Thüringens um Erfurt. Stimmungen und Bilder kehren, ausgelöst von topographischen Signalen, ins Gedächtnis zurück. Im Dorfkrug von Wiepersdorf, wo Jörn mit dem gleichaltrigen Wirt Gespräche führt, in einer der Kasernen oder von einem nahegelegenen Sportflugplatz aus, den ein ehemaliger NVA-Pilot betreibt, geht die Erinnerung zurück ins "Dritte Reich". Zunehmend fasziniert zeigte sich der Heranwachsende vom Krieg. Erregt durch filmische Kriegspropaganda wie "Stukas" und "U-Boote westwärts", träumte der Jungvolk-Pimpf von siegreich bestandenen Luftschlachten und versammelte aus Ju 87, He 111 und ME 110 über sich an der Zimmerdecke eine kleine Luftflotte. Über das nahe KZ Buchenwald und das Schicksal von dessen Insassen schwiegen sich die Älteren aus.

Als dann freilich der Krieg zu Ende war, begann Jörn zu begreifen, "dass alles nicht gestimmt hatte, was von den Erwachsenen gesagt" und von ihm blind geglaubt worden war. Je mehr Bomben auf deutsche Städte fielen und je öfter der Vater als Löschspezialist unterwegs war, desto mehr wuchs bei dem "Jungzugführer" das Gefühl der Ohnmacht - vor allem deshalb, weil die unstillbare Lebenslust und Untreue der Mutter zur Scheidung führte.

Jürgen Beckers mehrschichtige, gut komponierte Rekonstruktion einer Kindheit enthält bewegende Schilderungen: Bombennächte, die bis heute die Träume begleiten; jahrelanger Kleinkrieg der geschiedenen Eltern um ihr Kind; Angst vor der Wahrheit der Ehe der Eltern und des Todes der Mutter; dann das neue, unpathetische, im Swing zum Ausdruck kommende Lebensgefühl der US-Befreier. Noch nie war in der deutschen Nachkriegsliteratur der Wechsel einer Stadt wie Erfurt von amerikanischer in russische Hand so bilderreich zu lesen.

Becker ist ein genauer, nichts idealisierender Beobachter, der auch das Unscheinbare auf Nuancen hin absucht und zwischen ruhig-gelassener Naturschilderung, die Erinnerung vorantreibendem Gespräch, reportagehaftem Reisebericht die Erzählgeschwindigkeit sowie Sprachmelodie zu variieren versteht. Er erzählt, warum die DDR zu einer "Zone der Fremdheit" geworden ist, einer Fremdheit, die "von der Geschichte zurückgelassen worden ist", vom "Dritten Reich". Erst mit dem Fall der Mauer endet für ihn diese Geschichte.

Die wirkliche Aufhebung der Teilung setzt voraus, dass man sich zumindest seine "unterschiedlichen Erfahrungen" berichtet. Doch das Überwinden des Trennenden, teilt Jürgen Becker in seinem ästhetisch kühnen Text mit, wird dauern: "Die Kinder, die jetzt geboren werden zwischen Oder und Rhein, in vierzig Jahren gehen sie vielleicht miteinander um wie ganz gewöhnliche Landsleute, die nicht mehr geprägt sind von der Geschichte unserer Trennungen."Jürgen Becker: Aus der Geschichte der Trennungen. Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 1999. 336 Seiten, 39,80 Mark.

Stephan Reinhardt

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