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Kultur: Der Europäer

Zum 100. Geburtstag des Historikers Fernand Braudel

Frankreich hat im 20. Jahrhundert eine große Reihe bedeutender Historiker hervorgebracht. Fernand Braudel, der am 24. August 2002 geboren wurde und 1985 starb, gehört zu ihnen und war vermutlich der bedeutendste. Nach Marc Bloch und Lucien Febvre war er spiritus rector der „Annales“, jener historisch-sozialwissenschaftlichen Zeitschrift, die wie keine andere nach dem Zweiten Weltkrieg Impulse für die Erneuerung des geschichtswissenschaftlichen Denkens und Arbeitens in Frankreich, in weiten Teilen Euroas und schließlich auf der ganzen Welt gegeben hat. Die wegweisenden methodischen Ansätze Braudels treten aus seinem berühmten Buch über die Geschichte des Mittelmeers im Zeitalter Philipps II. hervor. Es entstand schon im Weltkrieg, erschien 1966 in zweiter Auflage und wurde erst 1990 auch ins Deutsche übersetzt. Braudel schrieb es nicht als Ereignishistoriker, nicht als Wirtschaftshistoriker, nicht als historischer Geograph, sondern er versuchte, alles in einem zu sein und die Bedingung der Möglichkeit einer „Totalgeschichte“ an diesem privilegierten Gegenstand zu erkunden. Das Buch legt Zeugnis ab von Braudels niemals versagenden Willen zur Synthese, zum interdisziplinären Zugriff und zur Bearbeitung eines Riesengegenstands, wie ihn vor ihm allenfalls Ranke zu behandeln gewagt hätte. Ähnliche Vorzüge zeichnen Braudels dreibändiges Werk über „Materielle Zivilisation, Wirtschaft und Kapitalismus“ aus, das den von Europa ausgehenden, weltweiten Durchsetzungsprozess des Kapitalismus untersucht.

Braudel hat viel Ruhm und eine Fülle von wichtigen Positionen für lange, entbehrungsreiche Forschungsarbeit ernten dürfen. Er war niemals „normaler“ Professor an einer „normalen“ Universität, sondern bekam 1949 sogleich einen Lehrstuhl am ehrwürdigen Collège de France, einer Hochschule, die ihren Mitgliedern wenig Lehrverpflichtungen und sehr viel freie Zeit für Forschung und Tätigkeit in der Öffentlichkeit ermöglicht. Die Verselbständigung der sozialwissenschaftlichen Abteilung der berühmten Forschungshochschule Ecole Pratique des Hautes Etudes in Paris war ganz wesentlich sein Werk. Kurz vor seinem Tod wurde ihm dann jene Ehrung zuteil, die für einen Franzosen über allen anderen steht: Braudel wurde in die Académie Française aufgenommen.

Der in Lothringen geborene Weltmann Braudel, der noch als 80-Jähriger eine – unvollendet gebliebene – Geschichte Frankreichs verfasst hat, war vor allem Europäer. Er sah die Zukunft dieses Kontinents von der Kooperation zwischen Frankreich und Deutschland bestimmt. Er wäre, wenn er seinen einhundertsten Geburtstag erlebt hätte, über den Stand dieser Kooperation vermutlich nicht sehr glücklich. Ernst Hinrichs

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