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Kultur: Der Fall Milosevic: Ein Ufo in Den Haag

Das Pfand Milosevic ist herausgegeben. Der Angeklagte musste den Weg nach Den Haag endlich gehen.

Das Pfand Milosevic ist herausgegeben. Der Angeklagte musste den Weg nach Den Haag endlich gehen. Ob seine Überstellung - es ist kein Auslieferungsantrag, wenn ein Bürger eines UN-Mitgliedsstaates vor ein UN-Gericht zitiert wird - auch aus Einsicht geschah, wird sich erweisen: Treibstoff für diesen Flug nach Den Haag war gewiss auch die serbische Finanznot. Es gehe um das Überleben der Republik, betonten Politiker in Belgrad gegenüber der Bevölkerung. Bis vor kurzem fanden ihre Argumente kaum ein öffentliches Echo. Das hat sich geändert, seit die Toten des Kosovo-Krieges buchstäblich zum Vorschein kamen, seit man die heimlich Verscharrten in der eigenen Nachbarschaft zu Hunderten ausgräbt. Wahrscheinlich ist, dass die grausigen Funde in der Donau und in Belgrad überhaupt erst publik gemacht wurden, als klar war, dass weder die EU noch die USA von ihrer Position weichen würden. Serbien wollte den Boden bereiten für eine breitere Akzeptanz der Zusammenarbeit mit dem Tribunal. Für andere in Jugoslawien gilt: Das Interesse am Schicksal Milosevics schläft langsam ein.


Hellwach ist man auf alle Fälle beim internationalen Tribunal selbst, das mit Milosevic mehr Prominenz erhält. Wenn der Blick einer weltweiten Öffentlichkeit jetzt auf das Tribunal fällt, wird das Dilemma umso deutlicher, in dem sich dieses Hilfsorgan des Weltsicherheitsrates befindet - wie auch die gesamten Vereinten Nationen. Ironischerweise genießt die UNO ihr größtes Ansehen oft dort, wo sie von den Herrschenden gefürchtet wird. In den ärmeren, wenig industrialisierten Ländern, die wir "emerging markets" nennen, tragen UN-Angestellte die eingeschweißten blauen Hausausweise mit Stolz. Das Zeichen UNO ist gleichbedeutend mit der Integration in eine kosmopolitische Weltordnung. Für die hochindustrialisierte Welt hingegen, insbesondere die USA, haben die Vereinten Nationen häufig noch den Rang einer karitativen Organisation, einer globalen Hilfstruppe, die mit ihrem gigantischem Verwaltungsapparat den nationalen Institutionen Konkurrenz machen möchte. Das zeigt sich nicht zuletzt in der hartnäckigen Weigerung der USA, ihre Beiträge an die UNO voll und rechtzeitig zu entrichten.

Die Vereinten Nationen sind unserer Zeit voraus. In ihren vielsprachigen Organen ist die postnationale Welt bereits angelegt: ein Ufo aus der Zukunft, das schon gelandet ist - ohne dass wir im "Westen" es wahrhaben wollen. Das Internationale Tribunal für das ehemalige Jugoslawien - und der Zwillingsgerichtshof für Ruanda - kann den Respekt für die Vereinten Nationen jetzt erhöhen.

Chefanklägerin Carla del Ponte wird gern Genugtuung oder gar Rachsucht unterstellt. Aber jeder, der die Prozesse verfolgt, ist beeindruckt von der Akribie und Professionalität des Gerichts.Insbesondere die deutschen Medien kaprizieren sich jedoch lieber auf Personalitystories - del Ponte gegen Milosevic - statt auf die rechtlichen Fragen. Während "wir" im Westen den serbischen Bürgern mangelndes Rechtsbewusstsein vorwerfen, taucht neben der Frage nach unserer Ignoranz gegenüber der UNO auch die Frage nach unserem Desinteresse an internationalem Recht auf.

Schauplatz der Geschichte

800 Journalisten aus aller Welt haben beim Jugoslawien-Tribunal um Akkreditierung gebeten, um am Dienstag für einige Augenblicke den neuen Angeklagten zu sehen. Jetzt, so sagen die permanenten Beobachter, ist euer Interesse groß, an dem bad guy, dem großen Fisch. So sei es mit jedem der prominenten Fälle. Sobald die mühsame Rekonstruktion der Ereignisse beginnt, der lange Prozess des Schuldnachweises, die Anhörungen der Zeugen, bleiben die Journalisten fern, besonders die aus Deutschland. Auch die deutschen Universitäten signalisieren wenig Interesse an Den Haag - während amerikanische, britische, japanische oder französische Eliteuniversitäten ihre Studenten zum Tribunal schicken, um einen Zweig der internationalen Justiz zu beobachten, der eben erst zu blühen beginnt.

Alle markanten Ereignisse der Jugoslawienkriege werden in Den Haag Tag für Tag behandelt werden, von Srebrenica bis Foca. Der Gerichtshof ist ein faszinierender Schauplatz der Zeitgeschichte, der Anschauungsmaterial zu Fragen liefert, die gerade in der deutschen Diskussion um Leitkultur, Schlusstrich, Mahnmal, Schuld und Erinnern eine große Rolle spielen. Hannah Arendt zweifelte daran, ob es für Verbrechen wie Massenmord eine angemessene Strafe geben kann. Welche Justiz ist solchen Verbrechen gewachsen? Wird sie den Opfern gerecht? Das Tribunal eröffnet neue Horizonte.

Warum gerade die deutsche Öffentlichkeit sich scheut, diesen kosmopolitischen Horizont von Den Haag zur Kenntnis zu nehmen und Sinnesorgane für die Wahrnehmung des eigenen Weltbürgertums zu entwickeln: Das ist keine Frage an die Jugoslawen, sondern an uns.

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