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Kultur: Der ferne Schrecken

Aus der Vogelperspektive: Fünf Millionen Bilder der Luftaufklärung aus dem Zweiten Weltkrieg wurden in England digitalisiert

Am Montag ist die Website der „Aerial Reconnaisance Archives“ der mittelenglischen Keele University nach einem weltweiten Ansturm erst mal zusammengebrochen. Die Universität hatte über fünf Millionen Fotos der britischen Luftaufklärung aus dem Zweiten Weltkrieg ins Internet gestellt, und damit Historikern wie privat Interessierten eine einzigartige Vogelperspektive auf die Weltgeschichte eröffnet. Noch diese Woche, so hofft Projektleiter Allan William, soll www.evidenceincamera.co.uk wieder zugänglich sein – und damit nicht nur eine Fülle neuer Luftbilder der im alliierten Bombenkrieg zum Ziel gewordenen deutschen Städte. Spektakulär wirken nach ersten Einblicken auch die Aufnahmen von der Invasion der amerikanischen und englischen Truppen an den Stränden der Normandie, bei denen wie schmale Inseln im Meer die Landungsbote der Alliierten und der Pulverdampf deutscher Geschütze am berühmten DDay, dem kriegsentscheidenden 6. Juni 1944, zu erkennen sind.

Nicht alle Bilder sind neu. Aber die digitale Aufbereitung jenes jahrzehntelang in tausenden von Kartons gelagerten Materials, das die Aufklärer der Royal Air Force den Archivaren und Historikern der Keele University übergeben hatten, vermittelt doch so etwas wie den zweiten Blick. Der trifft jetzt Bekanntes wie Unbekanntes, und man sieht die Bilder auch mit den Augen des computerisierten Medien-Kriegszeitalters. Dabei wirken die 60 Jahre alten Aufnahmen dann auf Anhieb kaum weniger „modern“ als die zwischen Virtualität, digitaler Abstraktion und zugleich Präzision changierenden Bilder beispielsweise der beiden letzten Golfkriege. Und selbst der äußerste, unvergleichliche Schrecken auf Erden erscheint aus sechstausend Metern Lufthöhe zunächst sehr entrückt.

Doch das hier abgebildete Foto des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau vom 23. August 1944 aktualisiert bei näherer Betrachtung selbst nach einem Menschenalter noch immer die verzweifelt verspätete Frage: Warum haben sie nicht auch hierher die Bomber geschickt – und die Bahnlinien oder gar das ganze Lager zerstört? Die Toten eines Angriffs hätten wohl das Überleben für Hundertausende bedeutet. Der im Bild links oben sichtbare Rauch des Krematoriums neben den Gaskammern von Birkenau ist das Luft-Bildzeichen des Sterbens von fast einer halben Million ungarischer Juden in jenem Sommer 1944; der Rauch zeigt an diesem Tag das Ende womöglich auch von 198 Jungen unter 14 Jahren aus dem Quarantänelager in Birkenau, von 759 jüdischen Männern aus dem KZ Mauthausen – und von den Unzähligen aus 40 Waggons, die in Auschwitz am Vortag als „Transport“ aus dem Ghetto Lodz registriert wurden.

Die Alliierten hatten 1944 die ganze Dimension des Völkermords noch nicht begriffen; der Bombenkrieg galt allein der deutschen Kriegsmaschinerie und der Moral der Bevölkerung durch die Zerstörung der Städte. Das Überfliegen von Auschwitz bleibt so eine offene Wunde, das erkennt man auch in der von der US-Regierung in diesem Punkt behutsam zensierten Dokumentation des Holocaust Museums in Washington. Ein Bild wie dieses aber brennt sich nun einmal mehr ein: ins Weltgewissen. P.v.B.

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