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Die Leiden des jungen A. Illustration zu „Adolphe“ von Serge de Solomko aus dem Jahr 1913.

© Wikipedia Commons

Der französische „Werther“: „Adolphe“ erzählt von den Metamorphosen der Liebe

Benjamin Constants „Adolphe“ gilt als Literaturklassiker. Nun erscheint der Roman von 1816 in einer hervorragenden neuen Übersetzung.

Kaum eine Autorenlesung kann stattfinden, ohne dass im Verlauf des Publikumsgesprächs jemand aus dem Publikum die berüchtigte Autobiografie-Frage stellt. Oft geschieht das verklausuliert, immer aber wollen die Leute wissen: „Ist das wirklich passiert?“, „Haben Sie das wirklich erlebt?“ oder – und das scheint oft noch interessanter zu sein – „Welche realen Vorbilder liegen den Figuren des Romans eigentlich zugrunde?“

Diese Neugier gab es immer, vielleicht seit es Bücher gibt – und nicht selten lassen sich diese in Bezug auf die Wirklichkeit tatsächlich „entschlüsseln“, daher der unschöne Begriff „Schlüsselroman“.

Vorbild etwa für Goethes „Werther“ ist natürlich Goethe selbst und für die Lotte-Figur seine (platonische) Jugendliebe Charlotte Buff; vom Personal der „Buddenbrooks“ kursierten ganze Aufschlüsselungslisten, zumindest in Thomas Manns Heimatstadt Lübeck, dem Ort der Handlung.

Nur handelt es sich bei Vorbildern selten bis nie um Entsprechungen, so dass sich die Frage stellt, wem mit solchen „Entschlüsselungen“ überhaupt geholfen ist? Auch Benjamin Constants schmaler, dafür umso bedeutenderer Roman „Adolphe“ wird nach wie vor gerne als Schlüsselroman gelesen.

Als eine Art französisches Pendant zum „Werther“, wenngleich Jahrzehnte später verfasst. Das Kultbuch erscheint jetzt bei Matthes & Seitz in der glänzenden Neuübersetzung von Erich Wolfgang Skwara.

Reizbare Melancholiker

Constant, ein bedauerlicherweise etwas in Vergessenheit geratener französischsprachiger Schriftsteller, Politiker, Staatstheoretiker, Kosmopolit Schweizer Herkunft und französisch-hugenottischer Abstammung schrieb „Adolphe“ im Jahr 1806 in Rouen sowie auf dem Schloss Acoste nordwestlich von Paris, wo er mit der berühmten Madame de Staël, der Autorin von „De l’Allemagne“, zusammenlebte.

Die Beziehung der beiden war, kurz gesagt, hochdramatisch. Kapriziöse Melancholiker waren sie, seelenverwandt, ja, aber immer himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt, reizbar und aggressiv, dann wieder zärtlich und versöhnlich gestimmt.

Wer darüber mehr wissen will, lese die Monographie „Madame de Staël und Benjamin Constant. Spiele mit dem Feuer“ des Historikers Günter Barudio, der das republikanische bis revolutionäre politische Engagement dieses intellektuellen Gespanns hervorhebt und dabei auch die Spielsucht und den übermäßigen Opiumkonsum Constants nicht auslässt.

Eine Bildungsreise in Deutschland langweilt ihn

Der 1816 erschienene „Adolphe“ aber ist viel mehr als nur eine autobiografische Verarbeitung einer turbulenten Liaison, als die ihn die skandalsüchtigen zeitgenössischen Leser aufgenommen hatten, so dass sich Constant in einem späteren Vorwort dagegen wehren musste: „Ich habe darüber doch eine lästige Bestürzung empfunden, und diese bewegt mich dazu, hier noch einmal zu wiederholen, dass keine der in Adolphe entworfenen Figuren mit den Menschen, die ich kenne, in Beziehung steht.“

Worum aber geht es in diesem Roman, der nicht umsonst als Paradigma des psychologischen Romans im 19. Jahrhundert gilt? Adolphe, ein junger Franzose, befindet sich auf einer Bildungsreise in Deutschland und langweilt sich quasi zu Tode – hier klingt bereits das Motiv des „Ennui“ oder „Spleen“ an, das später bei Baudelaire den Kern der Entfremdung des modernen Großstadtmenschen markiert.

Erst die Begegnung mit der zehn Jahre älteren Ellénore, einer polnischen Emigrantin und Mätresse eines Grafen, mit dem sie bereits lange liiert ist und auch Kinder hat, reißt den Schwerenöter aus seiner Lethargie.

Eine aufwühlende Liebesgeschichte

Er umwirbt sie und mit ihrem Widerstand wächst sein Begehren. Schließlich aber erhört sie ihn, opfert ihm ihre gesellschaftliche Stellung, die sie trotz ihres Mätressendaseins erlangen konnte, und verlässt den Grafen.

Ihre plötzliche Abhängigkeit von Adolphe aber verändert das Wesen seiner Liebe komplett – aus Leidenschaft wird Beschützerinstinkt und es entsteht ein umfassender Ekel, der sich gegen gängige gesellschaftliche Moralvorstellungen richtet. Menschen, die im Namen der Moral auf ihn einwirken wollen, allen voran sein Vater, begegnet er mit trotzigem Widerstand.

[Benjamin Constant: Adolphe. Aus dem Französischen von Erich Wolfgang Skwara, Matthes & Seitz 2020, 176 S., 18 €]

Den tragischen Verlauf dieser aufwühlenden Liebesgeschichte, die für nicht wenige Leser zum heißgeliebten „Lebensbuch“ schlechthin wurde, schildert Constant eher lakonisch als romantisch ausschweifend, man hat es auch nicht mit breiter, detailverliebter Epik zu tun, sondern nahezu mit einer konzentrierten Abhandlung über das unglückliche Wesen der Liebe an sich, Stendhals berühmtem Werk „De l'Amour“ von 1822 nicht ganz unähnlich, das dieser gelegentlich auch als „Physiologie der Liebe“ bezeichnete.

Constants psychologische Perspektive – der ganze Roman ist aus derjenigen eines Ich-Erzählers geschildert – nimmt etliches vorweg, nicht zuletzt Marcel Proust, einen Bruder im Geiste, der sich wie kaum ein zweiter den „Metamorphosen der romantischen Liebe“ (Thomas Klinkert) widmete.

Ein Proust avant la lettre

Nein, „Adolphe“ begeistert nicht als Schlüsselroman, sondern als durch und durch fiktionales Werk von großer psychologischer Klarsicht und wegweisender Qualität. Wer es liest, versteht auch sofort, dass das wesentliche Ereignis zwischen dem Leser und dem Text stattfindet, wenn man es denn, wie hier, mit Literatur zu tun hat, und nicht zwischen Text und Autor – so hat es Amos Oz einmal gesagt, der ebenfalls ein großer Experte in der psychologischen Durchdringung schwieriger Liebeskonstellationen war.

Aber Constant, dieser Proust avant la lettre, hatte es zuvor schon auf den Punkt gebracht: „Diese Verbissenheit, in Schöpfungen der Phantasie Personen erkennen zu wollen, denen man in der Welt begegnet, ist für solche Werke eine wahre Plage.“ Das ist einmal eine Aussage von zeitloser Gültigkeit.

Tobias Schwartz

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