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Kultur: Der gefährdete Freund

Uwe Johnson als Briefeschreiber – heute vor 20 Jahren wurde er zuletzt gesehen

Vom Kamm des Heidberges in Güstrow, wo Barlachs Haus steht, führt ein Abhang hinunter zum Inselsee. Die Landschaft öffnet sich und weckt einen Wunsch bei Gesine Cresspahl, aus deren Leben Uwe Johnsons „Jahrestage“ erzählen: „welch Anblick mir möge gegenwärtig sein in der Stunde meines Sterbens“. Es war eine Aussicht, die Johnson, wie er vor seinem Tod bekannt hat, auch für sich erhofft hatte. Johnsons Todesstunde kennt niemand, selbst der Tag ist nicht zweifelsfrei ermittelt, an dem der deutsche Schriftsteller in Sheerness-on-Sea, einem Küstenstädtchen auf der Isle of Sheppey, starb. Es spricht einiges für die Nacht vom 22. auf den 23. Februar 1984. Zum letzten Mal gesehen wurde er, noch nicht 50 Jahre alt, heute vor 20 Jahren. In seinem Tischkalender war die Doppelseite vom 21./22. Februar 1984 aufgeschlagen. Gefunden hat man ihn drei Wochen später.

„Deutschland hat Grund, um ihn zu trauern“, erklärte Heinrich Böll daraufhin, „und New York, in dem alles Heimat hat und alles heimatlos ist, auch Mecklenburg. Unsere Fahnen, die wir nicht zeigen, wehen auf Halbmast.“ Als „Umsiedlerkind“ war Johnson disponiert, die Erfahrungen von Vertriebensein, Heimatverlust, Randständigkeit und schuldhafter Verstrickung zu beschreiben. Mit dem Etikett „Dichter beider Deutschland“ oder „Erzähler der deutschen Teilung“, das ihm Kritik und Verlag bald nach Erscheinen der „Mutmassungen über Jakob“ aufdrückten, konnte er sich nicht anfreunden.

Johnsons Erzählen pendelt souverän zwischen Einzelschicksal und Gesellschaft, Alltag und Geschichte, Provinz und Welt. Die Beschreibung einer Regentonne auf einem mecklenburgischen Hof war ihm ebenso der Mühe wert wie der Tod von Martin Luther King. Johnsons Romane und Prosatexte sperren sich gegen Vereinnahmung und verzichten auf eine unhinterfragbare Wahrheit. Seine Version der Wirklichkeit bezieht ihre Kraft aus einer atemberaubenden Technik. Die Konstruktion der „Jahrestage“ – Kalenderprinzip, Personenführung, Binnenrelationen, Perspektivwechsel, Verschränkung der erzählten Zeiten – ist so raffiniert, dass sie selbst beim dritten oder vierten Lesen der fast 2000 Seiten nicht ausgereizt ist.

Der Fall der Mauer hat dem Erzähler Aufmerksamkeit verschafft. Johnson wird gelesen, sein Werk ist gut erforscht. Die Rezeption des Autors gleicht der eines Klassikers, um den sich Generationen von Wissenschaftlern bemühen: Es gibt die Schriftenreihe des Archivs, das Johnson-Forum, eine Studien- Reihe, einen dickleibigen Kommentar zu den „Jahrestagen“. Das Johnson-Jahrbuch geht ins elfte Jahr.

In den vergangenen Jahren ist Johnson als passionierter Briefeschreiber neu entdeckt worden: die zahllosen Briefe in der Chronik von Eberhard Fahlke, die Briefwechsel mit Max Frisch oder Siegfried Unseld, frühe skurril-schöne Korrespondenz mit Jochen Ziem, „Befreundungen“ – ein Lesebuch gefährdeter Freundschaften – mit Briefen an Lotte Köhler, Wolfgang Neuss, Reinhard Baumgart, Peter Wapnewski. Im Mai erscheint die Korrespondenz mit Hannah Arendt. Die Briefe Uwe Johnsons sind oft Kabinettstücke – rätselhaft, detailverliebt, rechthaberisch, von hintergründigem Humor, literarische Etüden, deren Spuren mitten ins Werk führen.

Unter dem Titel „Identität des verstorbenen Autors zweifelhaft“ lesen heute, 20 Uhr, in der Berliner Akademie der Künste Freunde, Kollegen und Herausgeber unveröffentlichte Briefe von und an Uwe Johnson.

Erdmut Wizisla

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