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Kultur: Der Geist, der stets bejaht

Spiritistische Sitzung: Daniel Barenboim spielt in Berlin Bachs „Wohltemperiertes Klavier“

Das Leben ist ungerecht. Da dirigiert Daniel Barenboim während der Staatsopern-Festtage drei Mal den „Tristan“, dazu einen dreistündigen Konzertabend mit Schönberg, Mendelssohn und Mahler, sitzt zwischendurch zweimal alleine am Flügel und muss am Ostersonntagnachmittag in der Lindenoper dem Gala-Publikum auch noch verkünden, dass im Lauf der Woche nicht nur Isolde alias Katarina Dalayman erkrankt ist, sondern obendrein Peter Seiffert als Tristan.

Es sei dem Haus gelungen, Elizabeth Connell und Christian Franz kurzfristig als Ersatz zu gewinnen, teilt Barenboim mit – und prompt ertönt ein lautes Buh aus dem ersten Rang. Auch wenn Connell und Franz in den Titelpartien enttäuschen werden: Das Buh für Barenboim trifft den Falschen. Dass der Staatsopern-Chefdirigent und Pianist (nach seinen Münchner Bach-Konzerten im Januar) nun erneut beide Bücher von Bachs „Wohltemperiertem Klavier“ interpretierte, in zwei langen Konzerten in der Philharmonie – das ist etwa so, wie wenn einer im Turbotempo eine Weltreise unternimmt und zwischendurch auch noch einen Achttausender besteigt. Chapeau!

Wie in seiner CD-Einspielung bei Warner Classics legt Barenboim es erneut nicht auf Vielfalt an, nicht auf Kontraste, Brüche oder Komplexität, wie es Gould und Gulda, Gilbert oder Rosalyn Tureck versuchten. Sein „Wohltemperiertes Klavier“ ist vielmehr ein organisches Ganzes, ein Universum nicht von dieser Welt, dem der Pianist seine Reverenz erweist. Huldigung eines Romantikers: Barenboims schnelle, impressionistische Präludien sind Tuschezeichnungen, perlmuttfarbene Sprühregengebilde, Sternschnuppengelichter. Die imitatorischen Präludien verwandelt er umgekehrt in kleine Ewigkeiten, versetzt das es-Moll-Präludium des ersten Buchs in Zeitlupe, versenkt sich innig und unendlich behutsam in den Zwischenraum zwischen den Tönen, horcht in die Stille hinein. Ein Stimmungszauberer des Kontemplativen.

Wenn er die Fugenthemen doch einmal als kräftiges Astwerk konturiert, umspielt er sie gleich wieder mit zart wucherndem Blattwerk: jede Engführung ein Pflanzenwuchs, der sich himmelwärts verjüngt. Die f-Moll-Fuge aus dem ersten Buch zelebriert er als chromatische Meditation, während die es-Moll-Fuge aus dem 2. Buch sich gleichsam aus dem Nichts ins Bewusstsein schleicht. Immer wieder gestaltet Barenboim Bachs Themen als kantable Melodien, dünnt sie aus bis zum dreifachen Pianissimo, entmaterialisiert sie zum stillen Gebet – um dann wieder kräftige Finalfiguren herauszumeißeln.

Kontrapunktik ist Barenboims Sache nicht. Kaum dass er ein Fugenthema ausgestaltet, rundet er die Ecken und Kanten spätestens beim dritten Einsatz wieder zum Einheits-Legato, hält die Spannung nicht, gibt nach. Auch verzichtet er weitgehend auf Experimente mit verschiedenen Tempi und unterlegt die Wanderung durch sämtliche Tonarten mit dem immer gleichen, durchaus angenehmen Puls. Da sitzt ein Mann alleine am Klavier, mit den Noten auf dem Pult, und absolviert seinen Dienst voller Demut, auf dass Bachs Geist ihm erscheine. Allein der Geist bräuchte einen Widerpart, jemanden, der ihm hin und wieder die Stirn bietet und nicht stets bejaht.

Kein klarer Gipfelsturm, sondern eine Verklärung. Zwar verschleiert Barenboim schon das erste C-Dur-Präludium nicht ganz so sehr wie in der CD-Aufnahme und macht in beiden Konzerten etwas weniger vom Pedal Gebrauch – was nicht zuletzt der Akustik des Scharoun-Baus geschuldet ist, in der sich gerne mal einzelne Töne davonstehlen und Akkorde mit Schlieren behaftet sind. Aber ein Butterweichzeichner-Bach bleibt es doch, mit verdämmernden Passagen à la Debussy, perlenden Mozart-Trillern und Wagner’schem Mischklang.

Barenboim packt nicht zu, er gibt sich hin. Das ist schön, zu schön, schwächt es doch vor allem seine Annäherung an das vertracktere zweite Buch. Dessen Dissonanzen pflügt er im Wohlklang unter, glättet die rhythmischen Irritationen und verlegt sich in der letzten halben Stunde bis zur h-moll-Schlussfuge vollends aufs Duftige, Ätherische. Der Pianist Barenboim liebt weniger den eigentlichen Akt des Klavierspiels als den Augenblick, wenn der Finger die Taste loslässt und der Ton sich im Raum selbstständig macht.

Nach fast fünf Stunden Bach breitet Barenboim vor dem Publikum in der Philharmonie die Arme aus, als danke er seinen Zuhörern. Es ist die gleiche Geste, mit der er sich nach einem Opernabend der Staatskapelle im Orchestergraben zuneigt. Sie bedeutet: Ich bin nur das Medium, das die Klänge evoziert.

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