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Kultur: Der Glanz der jüdischen Metropole

Erinnerungskultur & Engagement: das Themenjahr „Zerstörte Vielfalt“ in Berlin / Von André Schmitz.

Wenn es einen Tag in der deutschen Geschichte gibt, der nicht nur das 20. Jahrhundert, sondern auch die jeweilige Deutungshoheit über die eigene Geschichte symbolisiert, dann ist es der 9. November. An diesem Tag riefen der SPD-Politiker Philipp Scheidemann und der Führer des kommunistischen Spartakusbundes, Karl Liebknecht, 1918 in Berlin die deutsche Republik aus und zementierten das Schisma der deutschen Arbeiterbewegung.

Fünf Jahre später, am 9. November 1923, putschte ein bis dahin weitgehend unbekannter Gefreiter namens Adolf Hitler in München gegen die gewählte Regierung. Der Putsch scheiterte. Hitler wurde zu Festungshaft verurteilt und schrieb dort sein Machwerk „Mein Kampf“. Eben dieser Adolf Hitler wird am 30. Januar 1933 in Berlin von Reichspräsident Paul von Hindenburg als Reichskanzler vereidigt. Am Abend desselben Tages ziehen Kolonnen von SA, SS und Stahlhelm in einem Fackelzug durchs Brandenburger Tor. Am 9. November 1938 brennen in ganz Deutschland Synagogen. Das Nazi-Regime lässt die Masken fallen, bricht ein Jahr später den Zweiten Weltkrieg vom Zaun und organisiert von Berlin aus den größten Massenmord und Zivilisationsbruch in der Geschichte der Menschheit: die Deportation und industrielle Vernichtung von über sechs Millionen europäischer Juden.

Und am 9. November im Jahr 1989 fällt in Berlin die Mauer. Eine Mauer, die mehr war als eine „gewöhnliche“ Grenzlinie im Kalten Krieg, weil die durch sie betonierte Spaltung der Stadt immer auch auf die verbrecherischen Ursachen der Teilung Deutschlands verwiesen hat.

Vor drei Jahren haben wir den 20. Jahrestag des Mauerfalls gefeiert. Die Welt hat auf das neue, moderne, offene und vielfältige Berlin geschaut – the place to be für viele junge, kreative Menschen aus aller Herren Länder. In diesem Jahr wollen wir an die einstige, vom NS-Regime brutal zerstörte Vielfalt der Stadt erinnern. Zwei Daten bilden den historischen Rahmen dafür, der 80. Jahrestag der Machtübergabe an die Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 und der 75. Jahrestag der Reichspogrome im November 1938.

Berlin war als geteilte Stadt länger und ist bis heute nachhaltiger als jede andere deutsche Stadt durch die Folgen von Nazi-Barbarei, Krieg und Zerstörung geprägt. Aber nur eine Generation nach dem Fall der Mauer sind die extremen Ausschläge der Geschichte von einer Bürde zum „Kapital“ der Stadt geworden. Für viele Touristen ist Berlin das „Rom der Zeitgeschichte“. Wer sich auf die Spurensuche nach dem Jahrhundert der Extreme begeben will, kommt in unsere Stadt und findet hier zahlreiche Gedenkstätten und historische Erinnerungsorte vor, die NS-Herrschaft, SED-Diktatur und die Teilung der Stadt thematisieren. Diese Erinnerungskultur und das neue Antlitz der Stadt als moderne, weltoffene Metropole gehören zusammen. Mehr noch: sie bedingen einander. Denn: Wer die Berichte von rechtsextremen Terrorzellen, ausländerfeindlichen Mordanschlägen und xenophoben Ressentiments aus der Mitte der Gesellschaft verfolgt, der ahnt, wie fragil der Grund an vielen Stellen noch ist, auf dem wir uns in der neuen und wiedergewonnenen Vielfalt Berlins bewegen.

Hier liegt der gedankliche Ausgangspunkt für das Themenjahr 2013 – 80 Jahre nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten und 75 Jahre nach den Novemberpogromen. Eingerahmt von diesen historischen Daten wollen wir an die zerstörte Vielfalt Berlins erinnern, die in vielen Bereichen ganz wesentlich von der jüdischen Bevölkerung Berlins geprägt war. Von Menschen, deren Namen und Geschichte wir kennen – aber auch von solchen, die einst Nachbarn waren und leider immer noch weitgehend vergessen sind.

Berlin war bis 1933 eine auch stark jüdisch geprägte Metropole und befand sich nicht zuletzt deshalb zur Zeit der Weimarer Republik als weltoffene und liberale Stadt auf einem Höhepunkt ihrer künstlerischen und wissenschaftlichen Entwicklung. Wir wollen die Verluste sichtbar machen, die Berlin durch die nationalsozialistische Barbarei erlitten hat und deren Auswirkungen wir bis heute spüren. Und wir wollen bewusst machen, dass der Weg in den Holocaust ein Prozess der sukzessiven Zerstörung dieser Vielfalt durch die Ausgrenzung, Diskriminierung und Vertreibung der jüdischen Bevölkerung war, an dessen Ende die Ermordung von über sechs Millionen europäischen Juden stand.

Mit einer zentralen Ausstellung im Deutschen Historischen Museum wird das Themenjahr am 28. Januar eröffnet. Den Abschluss bildet eine zentrale Veranstaltung am 9. November. Viel wichtiger ist mir jedoch, dass dieses Gedenkjahr von vielen Initiativen und Projekten geprägt sein wird, die einem bürgerschaftlichem Engagement entspringen, das also nicht aus gegebenem Anlass ins Leben gerufen werden musste, sondern oft auf eine lange Tradition zurückblickt. Diese wollen wir an über 120 Orten der Stadt ins öffentliche Bewusstsein heben.

Unmöglich, alles aufzuzählen, aber einige Beispiele seien dennoch genannt. Das Deutsche Historische Museum gibt uns in einer Portalausstellung einen Überblick über die Aktionen des Themenjahres. In der Topographie des Terrors zeichnet eine Ausstellung den Weg in die Diktatur bis zum Sommer 1933 nach. Die Komische Oper erinnert mit einer Kurt-Weill-Woche im Januar und gemeinsam mit dem Land Berlin in einem Festakt im April an den kulturellen Aderlass im musikalischen Leben der Stadt. Der Gehörlosen-Bund präsentiert im Herbst ein Filmprojekt über das Schicksal von Gehörlosen in der NS-Zeit; Studenten der Humboldt-Universität entwickeln einen Audioguide zu jüdischen Unternehmen zwischen Hermannplatz und Maybachufer.

Das interkulturelle Netzwerk Joliba begibt sich mit Jugendlichen auf die Spurensuche nach dem Alltagsleben schwarzer Menschen im Nationalsozialismus. Das Museum Treptow-Köpenick erinnert an die „Köpenicker Blutwoche“ im Juni 1933, und auf dem U-Bahnhof Alexanderplatz wird die Ausstellung „Aus Rot wird Braun – Die BVG nach 1933“ zu sehen sein. Es ist nicht nur die große Anzahl, sondern vor allem die Vielfalt der Veranstaltungen, die das Wort von der Erinnerungskultur mit Leben füllt.

Adressat dieses Themenjahres ist nicht die Politik oder die Weltöffentlichkeit. Auch wenn die Welt in diesem Jahr ganz sicher nach Berlin blicken wird, um zu sehen, wie die Stadt sich diesem Teil ihrer Geschichte stellt. Erreichen wollen wir vor allem junge Menschen und Neu-Berliner, die Berlins wiedergewonnene Vielfalt heute so wundervoll selbstverständlich als Teil ihres Lebensgefühls und Lebensentwurfes angenommen haben. Wir wollen Geschichte ohne erhobenen Zeigefinger vermitteln. Und wir wollen bewusst machen, dass das Selbstverständliche eben nicht selbstverständlich ist, sondern in jeder Generation immer wieder neu bewahrt und erstritten werden muss.

Der Autor ist Berlins Kulturstaatssekretär. Das Programm wird am 14.1. vorgestellt. Infos: www.kulturprojekte-berlin.de

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