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Kultur: Der glücklichste Tod aller Zeiten

Denys Arcands preisgekrönter Film „Die Invasion der Barbaren“ feiert die Freundschaft – und den Willen, unbedingt das Richtige zu tun

Denys Arcands Filmtiteln ist nur mit einiger Vorsicht zu trauen. Sein Welterfolg von 1986, „Der Untergang des amerikanischen Imperiums“, versammelte drei Männer und drei Frauen nahe Vierzig, und gesellschaftliche Dekadenz orteten diese befreundeten und verbandelten Intellektuellen aus Montréal allenfalls im hemmungslosen Rückzug aufs Private. Also erkundeten sie auf den Trümmern ihrer sozialistischen Träume nur mehr die Grenzen der Lust – ziemlich rücksichtslos gegen andere und gegen sich selbst. War „Der Untergang des amerikanischen Imperiums“ deshalb ein Sexfilm? Nein, da feierten ein paar kluge Leute mal sentimental und mal ironisch, mal drastisch und immer ziemlich redselig nur das Leben.

Nun kommt, 17 Jahre später, „Die Invasion der Barbaren“  ins Kino, und wieder sind – schöne Rarität der Kinogeschichte – die sechs Helden von damals dabei; und wieder auch geht es nur am Rande um die im Titel angespielte politische Analyse, um Terrorismus,  Drogensucht und Bildungsverfall – alles Faktoren, die Amerika und die alte weiße Welt langsam sturmreif machen mögen für eine vielgesichtige neue Barbarei. Viel mehr beschäftigen sich die Figuren diesmal mit dem individuellen Tod – mit der eigenen Vergänglichkeit und dem Abschied von ihrer unheilbar krebskranken hedonistischen Leitfigur. Ist „Die Invasion der Barbaren“ deshalb ein Film übers Sterben? Nein, denn die Filmhelden, die sich in ihrer Sentimentalität und Selbstironie und ihrer Redseligkeit kaum verändert haben, feiern nun gemeinsam umso mehr – und umso tiefer – das Leben.

Der pensionierte Geschichtsprofessor Rémy (Rémy Girard) ist es, der sterben muss. Der Womanizer, der  sich im „Untergang“ noch beim endlichen Auffliegen vergangener Seitensprünge in weinerliches Ehemänner-Gebettel geflüchtet hatte, lebt nun seit 15 Jahren geschieden – und seine Exfrau Louise (Dorothee Berryman) holt Sohn Sébastien (Stéphane Rousseau), inzwischen Börsenmakler in London, ans Sterbebett. Dieser „Prinz der Barbaren“, der nie ein Buch gelesen hat, aber mit Handy und Laptop, mit Polizei und Schmiergeld souverän umzugehen versteht, organisiert dem fremd gewordenen Vater zunächst nur aus Liebe zur Mutter den glücklichsten Tod aller Zeiten. Erst schmiert er die Klinikleitung und die als Proll-Mafia agierende Gewerkschaft und besorgt so Rémy ein eigenes Zimmer in dem überfüllten Krankenhaus. Dann verschafft er ihm Heroin, acht Mal wirksamer als Morphium – und mit Nathalie (Marie-Josée Croze), der Junkie-Tochter einer der Ex-Geliebten Rémys, einen selber gefährlich todgeweihten Todesengel. Und er holt all die verstreuten Freunde von damals herbei, damit sie Rémy den Abschied vom Leben so federleicht wie möglich machen mögen.

Lauter Übertreibungen also, lauter Unglaubwürdigkeiten – und das Ganze auch noch im Gewande einer Krankenhaus-Soap? Unerschrocken und souverän plündert Regisseur und Drehbuchautor Arcand die Trivialmythen der Gegenwart und verwirklicht doch vor unseren Augen einen Traum. Möglich ist das, weil nicht Moral zählt, auch nicht Zynismus, den man gerne an deren Stelle setzt, sondern stets ein Sinn für das entschieden Pragmatische, als sei Pragmatik die Erfüllung jedweder Philosophie. Dass es meist das banal „barbarische“ Geld ist, das formale Hindernisse überwinden hilft, macht nichts; es sind die Hindernisse, die nichts taugen, nicht die Strategien ihrer Überwindung. So erzählt der Film in seinem vorbehaltlosen Plädoyer für die Anwendung der Vernunft auch von einer schönen Utopie: der erfolgreichen Verschwörung der Menschen gegen ihre eigenen Regelwerke.

Ein sanfter Geniestreich ist Denys Arcand mit diesem Film gelungen, in seiner Nüchternheit so zärtlich und bewegend wie kaum ein anderer in diesem Jahr (in Cannes gab es dafür den Regiepreis, ein weiterer ging an Marie-Josée Croze). Und zugleich ein feines Sittenbild unserer Tage. So wie sich „Der Untergang des amerikanischen Imperiums“ 1986 als Anagramm auf 1968 lesen ließ, als Überlebenskünstlertum der Achtundsechziger zwischen Aids und Fitness-Terror, zwischen Swinger-Partys und Öko-Wahn, so konkret und mitunter sarkastisch funktioniert auch „Die Invasion der Barbaren“: von den Seitenhieben auf das kanadische Gesundheitswesen und Schickimicki-Drogen bis hin zum ironischen Abgesang auf alle Ismen. Der Weg vom Existenzialismus über den Marxismus-Leninismus und Strukturalismus und Feminismus bis zum Dekonstruktivismus jedenfalls dürfte nicht nur den charmanten Uralt-Linken auf der Leinwand vertraut sein. Doch der Witz vergisst die Skepsis nie (und die Skepsis nie den Witz): Wir leben in einer Zeit nach allen Werten, sagt Arcand zwischen den Bildern, wir haben unseren Geist verbraucht und verschwendet, wir sind reif für eine feindliche Übernahme von woher auch immer.

Groß aber wird „Die Invasion der Barbaren“  erst durch den Blick auf das Generationenverhältnis. Die – zweifellos unterhaltsamen – Schwafler, die sich im „Untergang“ noch selbst genügten, haben sich immer nur mit Realitätsherumdeuteleien durchgemogelt; nun sind es die Jungen, ob Sébastien, Nathalie oder Sébastiens Freundin Gaelle (Marina Hands), die in ihrer wortkargen Hilfsbereitschaft umso wirkungsvoller handeln – und klarsichtig, ohne böse zu sein, den Alten ihre Wahrheit ins Gesicht sagen.

Dass gerade sie damit, zumindest privat, den marxistischen Grundsatz anwenden, wonach man die Welt nicht immer bloß interpretieren, sondern verändern soll, gehört zu den so zahlreichen wie beiläufigen Pointen dieses Films. Die beißendsten und zartesten Beobachtungen widmet Arcand der aus großer Kälte wachsenden Nähe zwischen Vater und Sohn: Doch sind selbst die anrührenden Szenen, die derlei Doppelverwandlung im Angesicht des Todes mit sich bringt, stets an Erkenntnis, zumindest ein  vorsichtiges Begreifen gekoppelt. So wird die kaputte Welt langsam wieder bewohnbar, eine Welt sogar ohne Verlierer; und selbst das superkluge alte Ego namens Rémy lernt das noch einmal zu verstehen.

Ab Donnerstag in Berlin im Cinema Paris (OmU), Delphi, International, Kulturbrauerei und Yorck; „Der Untergang des amerikanischen Imperiums“ ist am 5. 12. im Filmtheater Friedrichshain, am 7. 12. im Delphi und ab 11. Dezember im Blow Up und voraussichtlich auch im Broadway zu sehen.

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