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Kultur: Der Gott der armen Leute Musikfest Berlin: Rattle mit Janáceks „Jenufa“

Man stelle sich vor: Ein Komponist von heute vertont die Geschichte der Kindsmörderin von Brieskow-Finkenheerd. Leos Janácek war ähnlich verwegen, als er vor gut hundert Jahren die Oper „Jenufa“ schuf, als Tragödie über die Verbrechen armer Leute und ein aus Verzweiflung getötetes Baby.

Man stelle sich vor: Ein Komponist von heute vertont die Geschichte der Kindsmörderin von Brieskow-Finkenheerd. Leos Janácek war ähnlich verwegen, als er vor gut hundert Jahren die Oper „Jenufa“ schuf, als Tragödie über die Verbrechen armer Leute und ein aus Verzweiflung getötetes Baby. Ständig geht es bergab. Jede Melodie führt, kaum dass sie sich aufschwingt, gleich wieder nach unten, entkräftet, erschöpft, im Aufruhr der Gefühle. Vertonte Vergeblichkeit. Und daneben, dagegen: das Aufbäumen, der Schrei.

Wie wird Simon Rattle, der Meister der Lebenslust, das wilde, düstere Werk angehen? Wie wird er es als Höhe- und Angelpunkt des Musikfests mit den Philharmonikern und einem grandiosen Sängerensemble erstmals konzertant auf die Bühne der Philharmonie bringen? In der Tat dominiert zunächst überbordende Vitalität: das derbe mährische Kolorit, der kraftvolle Volkston des großartig disponierten Berliner Rundfunkchors und das wie von Windstößen vorangetriebene Pulsieren des Orchesters. Die weichen Vers-Enden von Janáceks Sprachmelodie gehen in der forcierten Dynamik zunächst fast unter. Das Orchester schmiegt sich den Stimmen weniger an, als dass der Gesang sich im Getümmel zu behaupten versucht.

Aber die Bedrängnis der Solisten entspricht der Bedrängnis ihrer Figuren. Der metallisch strahlende Laca von Stefan Margita: Unvermittelt verströmt er Zartheit. Auch Deborah Polaskis Küsterin schert aus der Routine der Spitzenpartie aus, wenn sie nach jedem ihrer Schreie mehr riskiert: die schiere Panik, den von zitternden Geigen angekränkelten Wohllaut. Neben Karita Mattila in der Titelrolle verblasst jedoch selbst Polaski: Wenn Jenufa im zweiten Akt den Tod ihres Kindes halluziniert, wenn Mattila prekäre Spitzentöne gefährlich sanft ansetzt und sich das Bleigewicht der Trauer auf ihre glasklare Stimme senkt, reagiert auch das Orchester endlich wie unter Schock. Ein einziger Seufzer: Stoßgebet zum Gott der armen Leute, der sich verweigert.

Werkstatt Philharmonie. Zum Meisterstück fehlt noch die Ausdifferenzierung von Janáceks Klangwelten, der Feinsinn für die Untertöne beim Umschlag der Liebe in die Verzweiflungstat: zu abrupt immer wieder Rattles dynamische Stufung. Aber die Philharmoniker arbeiten sich im besten Wortsinn an „Jenufa“ heran. Und wenn das todtraurige Happyend für Jenufa und Jaca hier nicht nach Opernkonvention klingt, sondern wie eine Solidaritätsadresse an die Erniedrigten und Beleidigten, ist auch das womöglich eine Verzweiflungstat. Aber eine bewegende.

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