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Kultur: Der Greis und sein Schwarm

Hans Pleschinski imaginiert Thomas Manns späte Wiederbegegnung mit einem Liebhaber.

Lübeck, Davos, Pacific Palisades – es gibt einige Orte, die man sogleich mit Thomas Mann in Verbindung bringt. Düsseldorf gehörte bisher nicht dazu. Obwohl doch seine letzte große Novelle („Die Betrogene“) über die fatale Liebe der Rosalie von Tümmler in Düsseldorf spielt, und das nicht zufällig. Die Stadt war für Thomas Mann erotisch besetzt, denn von dort stammte Klaus Heuser. Der damals 17-Jährige war seine große Liebe aus dem Sylter Sommer von 1927; Heuser war auch Gast bei den Manns in München.

Vielleicht nie ist Thomas Mann einem jungen Angeschwärmten näher gekommen. Noch viele Jahre später resümiert er im Tagebuch mit ergriffenen Worten diese gewiss nicht sehr ausschweifende Passion als einen Höhepunkt seines Lebens; sie beflügelte sein Werk. Der junge Josef der biblischen Tetralogie „Josef und seine Brüder“ – er ist wohl auch eine Heuser-Fantasie.

So erklärt sich, warum Hans Pleschinskis Thomas-Mann-Roman „Königsallee“ Düsseldorf zum Schauplatz hat. Der Schriftsteller, der seinen Wohnsitz damals nach den Jahren des kalifornischen Exils in die Schweiz verlegt hatte, reist 1954 an den Rhein, um aus dem „Felix Krull“ zu lesen. Die ersten 30 Seiten zeigen das Personal im Hotel Breidenbacher Hof, beflissen damit beschäftigt, dem erwarteten Gast viel Komfort und keinerlei Unannehmlichkeiten zu bieten. Es ist beinahe so, als würde ein Monarch anreisen. „Der Gast galt als einer der empfindlichsten weltweit“, heißt es, und so werden noch schnell neue Schallschutztüren maßgefertigt.

Pleschinski, dessen letzter Roman „Ludwigshöhe“ über eine Selbstmördervilla am Starnberger See schon das gewisse Thomas-Mann-Aroma hatte, gestaltet den Düsseldorf-Besuch nach dem Muster von Manns Roman „Lotte in Weimar“, wo die Wiederbegegnung des alten Goethe mit der Jugendliebe Charlotte Kestner inszeniert wird. Hier nun also: Klaus in Düsseldorf. Denn zeitgleich mit Thomas Mann hat sich im Breidenbacher Hof auch Klaus Heuser mit seinem Lebensgefährten Anwar einquartiert: ebenfalls eine Rückkehr, nach 18 Jahren in Fernost. Die Wiederbegegnung des erotisch sensiblen Greises und seines nun auch nicht mehr jungen Schwarms scheint unausweichlich.

„Lotte in Weimar“ basiert auf einer fulminanten Komödienidee, einer Drehung der Perspektive. Bevor Goethe selbst auftritt, wird er ins Visier genommen von mehr oder weniger geniegeschädigten Figuren seines engsten Umkreises, etwa dem Sekretär Riemer oder Sohn August. Ganz ähnlich geben sich in „Königsallee“ nun Figuren des engsten Mann-Kreises bei Klaus Heuser die Klinke in die Hand. Zuerst tritt Erika Mann in Erscheinung, die unermüdliche politische Kämpferin, bei der sich furioses Temperament und Verbitterung mischen, die Tochter, die sich im Dienst am Vater aufreibt und Heuser von ihm fernhalten will. Die Wiederbegegnung würde dem gesundheitlich angeschlagenen alten Herrn (er hatte nur noch ein Jahr zu leben) nicht guttun.

Auch der vergrämte, tief melancholische Sohn Golo Mann hat einen komödienhaften Auftritt. Damals war er noch nicht der berühmte Historiker; verzweifelt versucht er aus dem Schatten des Vaters zu kommen, die Zurücksetzung treibt ihn sogar zu Mordfantasien. Er will Heuser für seine Zwecke einspannen – auf dass der Vater ihm endlich mal seinen Segen erteile. Um verlorene Gunst ringt auch ein ehemaliger Hausfreund, der gesunkene Professor Ernst Bertram, berühmter Nietzsche-Exeget und Thomas Manns Helfer aus den Tagen des „Zauberbergs“. Leider entschied er sich dann politisch für die falsche Seite und zündelte bei der Bücherverbrennung mit. Im Roman hat Bertram einen hübsch hündischen Auftritt, bei dem er versucht, Heuser zu seinem Fürsprecher zu machen.

Goethe selbst tritt in „Lotte in Weimar“ erst im siebten Kapitel auf, wo Thomas Mann sein Modernitätsdefizit auszugleichen versucht und mit Seitenblicken auf Joyce einen langen inneren Monolog Goethes bei seinen Morgenroutinen inszeniert. Klar, dass Pleschinkis siebtes Kapitel etwas Ähnliches unternimmt: eine Originalton-Montage als Bewusstseinsstrom des im Hotelbett erwachenden Thomas Mann, der sich die Plagen und Erfolge seines Schriftstellerlebens durch den Kopf gehen lässt, über Schreiben und Lieben, Politik und Exil sinniert. Am Ende des Romans kommt es dann zu einer kurzen, intim-vertraulichen wie geträumten Wiederbegegnung mit Klaus Heuser. Hier wird der quellengenau gearbeitete Roman fiktiv. Tatsächlich wiedergetroffen hat Thomas Mann in Düsseldorf wohl nur die Eltern Heusers; mit Ernst Bertram hatte es schon wenige Tage vorher, nach seinem Auftritt in Köln, eine Versöhnungsbegegnung gegeben.

„Königsallee“ ist ein mit Mann-Zitaten gespicktes Buch. Passagen aus den Briefen, Tagebüchern, Aufsätzen, Romanen – Pleschinski kennt sich bestens aus, er zelebriert den zugleich ziselierten und wortkräftigen Thomas-Mann-Stil und schreibt selbst auch sehr gepflegt und kulturbeflissen, allerdings ohne die Mann’schen Widerhaken der Ironie. Auch Erika und Golo Mann sind hier weniger dargestellte als sich selbst zitierende Figuren, was manchmal allzu sprechpuppenhaft wirkt. Ein wenig mehr Spielfreiheit hätte sich der Autor nehmen dürfen.

Dennoch ist „Königsallee“ eine kluge, amüsante Lektüre und der humorlosen Breloerisierung der Familie Mann allemal vorzuziehen. Gelungen ist das Buch darüber hinaus als Zeitroman: frühe 50er Jahre, der Aufbruch aus Ruinen, die überall lauernden Schatten der jüngsten Vergangenheit, die sichtbaren und unsichtbaren Kriegsverletzungen. Thomas Mann, der Exilant und weltberühmte Repräsentant des besseren Deutschland, war damals eine Figur, an der sich die Geister schieden. Es ist, als sollte der Nobelpreisträger in Düsseldorf eine Art Exorzismus betreiben. Wo Thomas Mann sich für eine Nacht niederlässt und eine Rede hält, da rückt ein Gemeinwesen wieder ein in den Kreis der Anständigkeit, da ist der Segen der Demokratie präsent, und auch die Handelsbeziehungen profitieren. Dass zur selben Zeit der Ex-Generalfeldmarschall Kesselring, Oberbefehlshaber der Wehrmacht Süd und „begeisterter Vollstrecker jedes Führerwinks“, im Breidenbacher Hof gastiert, ist ein Schönheitsfehler, was schließlich auch die Hotelleitung einsieht: „Kesselring musste aus dem Haus!“

Es gibt allerdings Teile der Bevölkerung, die vom Mehrwert eines Thomas-Mann-Besuchs nichts wissen wollen, und auch der Kulturreferent von Düsseldorf findet bei seiner Ansprache nicht den richtigen Ton. Der Teufel reitet ihn, mehr von Ernst Jünger als von Thomas Mann zu reden. Erika Mann erstarrt und flucht vernehmlich vor sich hin. Das sind treffende Szenen. „Königsallee“ bietet das Sittenbild einer Zeit, die zwischen diktatorischer Vergangenheit und demokratischer Zukunft so manchen Balanceakt zu vollbringen hatte.

Hans Pleschinski: Königsallee. Roman. C. H. Beck, München 2013, 393 S., 19,95 €.

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