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Kultur: Der große gemeinsame Renner

Dichte Sprache, lockere Gespräche: die „Poetry Nights“ beim Literaturfestival Berlin

Von Steffen Richter

Auf dem Parkplatz vor dem Berliner Ensemble steht ein nobles Zelt mit dem schicken n „Hospitality Lounge“. Drinnen wird der literarische Diskurs gepflegt: Dichter sprechen mit Dichtern – oder in die Mikrofone von Journalisten. Immerhin trifft man selten so viele interessante Interviewpartner auf einmal. Und dass auch „El País“, „Libération“, „Il Messaggero“ oder „The International Herald Tribune“ ausliegen, gehört zum Programm: Das Internationale Literaturfestival nimmt seinen Namen ernst. Der Horizont hinter der eigenen, vertrauten Literaturlandschaft ist mitunter erschreckend weit. Da tut es gut, auf Inseln zu stoßen, Fixpunkte auszumachen.

Die „Poetry Night“ ist eine solche Insel. An drei Abenden lesen fast 20 Lyriker aus ihren Texten. Jeweils am Tag darauf finden sie sich dann in kleinerer Runde bei „Poetry Talks“ zusammen, um ästhetische wie handwerkliche Fragen zu klären. Und mitunter entwickeln sich aus den Werkstattgesprächen politische Debatten mit Fokus auf den 11. September: Schließlich kondensiert sich die Weltsicht oft in Stilfragen. Mit der lockeren Bündelung von Vortrag und Diskussion zum Kompaktkurs Lyrik haben die Organisatoren jedenfalls eine glückliche Hand bewiesen. Keiner kann das Festival noch ohne weiteres als literarischen Gemischtwarenladen kritisieren.

Die alte Probebühne des BE ist an diesen Abenden ganz auf Poesie gestimmt. Schon im Treppenaufgang bitten Schilder dezent, aber bestimmt: „silence please“. Da hat es fast etwas Neurotisches, wenn das Publikum in schöner Regelmäßigkeit zum Abschalten der Mobiltelefone angehalten wird – obwohl kein einziges Handy klingelt. Aber sei es drum, schrille Töne würden womöglich die Atmosphäre verderben, als die Niederländerin Hester Knibbe vor schneeweißem Bühnenbild zu deklamieren beginnt.

„Fast nichts passt vollständig in die Schale von seinem Wort“, lautet einer ihrer Verse. Spätestens da ist klar: Es geht hier um Lyrik im engeren Sinne, um Wortarbeit. Anders als bei vielen als hip geltenden Spektakeln ist nicht die Performance das Ereignis, sondern die Sprache selbst. Darin könnte freilich auch ein Problem liegen. Von der wunderbaren Welt eines Michel Deguy, Gallimard-Lektor und Stardichter aus Paris, versteht man vorerst recht wenig. Daran ändern auch die Übersetzungen wenig, die von Schauspielern parallel zu den Originaltexten der einzelnen Lyriker vorgetragen werden. Denn die Zeit, die vonnöten ist, damit sich die hoch komplexen Brühwürfel aus Sprache im Kopf des Zuhörers auflösen und dort Wirkung entfalten können, fehlt dann doch. Glücklicherweise hilft der ausführliche Festivalkatalog weiter. Dort – oder auf dem opulenten Büchertisch im Foyer des BE – findet man aufgeschrieben, was da eben noch funkelnd durch den Raum schwirrte.

Revolution als A-Cappella-Gesang

Kein Wunder also, dass die Pausen hoch willkommen sind. Traditionelle Lyrik rekrutiert ihre Adepten offenbar unter jenen 20- bis 50-Jährigen, die ihr Heil in der Entschleunigung und im Gespräch suchen. Auch die Poeten mischen sich nach getaner Arbeit unters Volk. Da parliert Deguy bei einem Glas Weißwein mit seinen Verehrern, und von einem Plakat im Fenster beäugt der alte Hausherr Brecht die Szenerie im Hof. Am Engagement, der Kompetenz und Freundlichkeit der Festivalmacher hätte er ohnehin seine Freude gehabt. Sobald sich bei den Lesungen Unmut regt, weil Ton oder Beleuchtung zu wünschen übrig lassen, wird flexibel umgebaut. Und wenn im letzten Moment Tische oder Stühle gerückt werden müssen, ist Festival-Chef Ulrich Schreiber einer der ersten, die mit anpacken.

Dann geht es im Halbstundentakt weiter. Ilma Rakusa aus Zürich stellt mit Gedichten aus dem Band „Love after Love“ klar, dass auf die Erfüllung der Liebe nur noch Indifferenz folgt. Angesichts des schwedischen Götterhimmels von Großmeister Lars Gustafsson wird deutlich: Lyrik ist, wenn man etwas empfindet, das einem zu denken gibt. Als sich nach vier Stunden im poetischen Dampfkessel mit dem Amerikaner Forrest Gander und dem Briten Tom Raworth dann doch Müdigkeit einzustellen beginnt, sorgt Anne Waldman aus der Fraktion der Beat Generation für den nötigen Adrenalinstoß. John Cage zu Ehren verkündet sie einmal mehr die „Revolution“, bevor sie in schönsten A-cappella-Gesang verfällt. Und die Probebühne bleibt bis Mitternacht gut besucht.

So gelingt es der „Poetry Night“, Vielfalt zu präsentieren, ohne im Unverbindlichen stecken zu bleiben. Mehr noch als für Erzähler oder Dramatiker scheint es für Lyriker einen gemeinsamen Horizont zu geben, ob es sich nun um mexikanisches Spanisch bei Tedi López Mills oder libanesisches Französisch bei Salah Stétié handelt. Und wenn der aus Tunesien stammende Franzose Abdelwahab Meddeb über China in New York dichtet, greift unwillkürlich die pathetische Idee Raum, Poesie sei grenzenlos. Nur dass sich das Crossover aus keiner wohlfeilen Multikulti-Rhetorik speist, sondern aus gelebten Identitäten. Vom Pausenhof jedenfalls ist das wunderlichste Sprachengewirr zu vernehmen. „He is a poet“, ruft ein Mann mit Bierglas in der Hand. Es klingt wie ein Resümee.

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