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Foto: Waltraud Grubitzsch/dpa

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Kultur: Der große Vorsitzende DDR-Staatskünstler

Willi Sitte wird 90

Die wenigsten Künstler können von sich behaupten, dass man Witze über sie gerissen hat. Willi Sitte, der Maler, Volkskammerabgeordnete und langjährige Präsident des Verbands Bildender Künstler der DDR, eroberte sich einen festen Platz in der ostdeutschen Witzkultur. „Lieber vom Leben gezeichnet als von Sitte gemalt“, lautete ein Spruch über die Malkünste des großen Vorsitzenden. Wenn man ihn seinerzeit irgendwo anbrachte, durfte man der Lacher sicher sein.

Willi Sitte, der heute 90 wird, prangte mit seinen prall-realistischen Großgemälden in der DDR sogar von den Briefmarken. Sein Name war ein Synonym für das, was Honecker und Co. unter Kunst verstanden. Der freie Blick auf die unbestreitbare Qualität seines Werks litt stets unter seinem Ruf. Sitte war Teil des Establishments. 2001 ging es noch einmal hoch her, als eine zum 80. Geburtstag geplante Sitte-Retrospektive im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg kurzfristig mit dem fadenscheinigen Argument verschoben wurde, ehe man den Künstler zeige, müsse man noch mal über den Funktionär sprechen. Sitte sagte gekränkt ab, die Historiker forschen vermutlich bis heute. Zum 85. Geburtstag 2006 spendierten Sittes Verehrer dem Meister dann ein eigenes, weitgehend unkritisches Stiftungs-Museum in Merseburg. Altkanzler Gerhard Schröder, der schon vor dem Mauerfall Sitte-Ausstellungen im Westen unterstützt hat, kam persönlich zur Eröffnung. Seither ist es still geworden um den 1921 in Böhmen geborenen und seit 1947 in Halle/Saale lebenden Maler.

Sitte, der 1977 auf der Documenta 6 in Kassel ausstellen durfte, zog seinerzeit Bewunderer, Spötter und Neider scharenweise auf sich. Und viele der Gemälde und Grafiken, mit denen er sich seit den siebziger Jahren im Neobarock muskelbepackter Arbeiter und kopulierender Paare eingerichtet hat, lassen den Betrachter noch immer etwas ratlos zurück. Zugleich jedoch ist dieser Maler ein begnadet Frühreifer gewesen: In den ideologisch umkämpften Fünfzigern orientierte sich kein zweiter DDR-Maler seiner Generation so frech und intelligent an klassisch-modernen Vorbildern wie er.

Nicht Beckmann, Dix und Kokoschka, die heimlichen Überväter der Leipziger und Dresdner Malerei, sondern Picasso und die Italiener standen damals auf Sittes Agenda. Schließlich hatte er das Kriegsende als Partisan in Italien erlebt und danach künstlerische Studien in Mailand und Venedig betrieben. Nun verschmolz er seine Eindrücke zu einem ganz eigenen malerischen Dialekt: mediterran mit mitteldeutscher Färbung.

In Bildthemen wie dem Massaker von Lidice oder dem Hochwasser in der Poebene fand der überzeugte Kommunist der ersten Stunde gültige Metaphern für die Katastrophen des 20. Jahrhunderts – und stellte sich damit bravourös in die von Karl Hofer und Hans Grundig begründete Tradition einer gesamtdeutschen figürlichen Nachkriegsmoderne. Was hätte aus diesem Künstler werden können, wenn er seine Freiheit nicht irgendwann für die Verlockungen der Politik geopfert hätte? Michael Zajonz

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