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Kultur: Der intuitive Zugang zum anderen Leben

Von den berühmt gewordenen Fotos von Henri Cartier-Bresson könnte man jedes Beliebige herausgreifen.Immer würde man darin eine Geschichte entdecken, die das Leben selbst geschrieben hat.

Von den berühmt gewordenen Fotos von Henri Cartier-Bresson könnte man jedes Beliebige herausgreifen.Immer würde man darin eine Geschichte entdecken, die das Leben selbst geschrieben hat.Zum Beispiel bei der Aufnahme eines springenden Mannes "Hinter dem Bahnhof Saint-Lazare" (Paris, 1932).Warum springt dieser Mann, da er doch unweigerlich in der Pfütze landen wird? Ist das Plakat im Hintergrund die Antwort? Eine Frau, vielleicht eine Zirkusakrobatin oder ein Revue-Girl, vollführt einen Luftsprung im Spagat, ihr Körper bildet fast das seitenverkehrte Siegelbild des springenden Mannes im Vordergrund mit Anzug und Hut.Der Zaun, der die Szene umfängt, könnte auch das Gitter eines Raubtierkäfigs in der Manege sein.Ist dieses Bild ein Gleichnis des menschlichen Lebens oder doch nur ein Scherz auf Kosten eines dicken, springenden Mannes? Nichts daran ist manipuliert.Es ist buchstäblich aus dem Leben gegriffen.

Cartier-Bresson mußte nur warten, lauern und pirschen - manchmal 30 bis 40 Kilometer täglich, um zum Schuß zu kommen.Seine Beute ist die Gestalt, in der sich die Teile zu einem Ganzen synthetisieren.Warten können auf den "entscheidenden Augenblick", das ist Cartier-Bressons Philosophie geworden.Den Augenblick mit der Kamera erfassen, wo Form und Inhalt in die richtige Konjunktion treten.Im Frühwerk, in den dreißiger Jahren, hatte das etwas von den unerwarteten Korrespondenzen, wie sie der Surrealismus aufspürte.Später in seinen Reporterjahren nach dem Krieg, auf Reisen rund um den Globus für die von ihm selbst 1947 gegründete Fotoagentur Magnum, geht es um etwas anderes: das Leben.

Cartier-Bressons Weg zur Fotografie war verschlungen.Heute vor 90 Jahren in Chanteloup nahe Paris geboren, galt Cartier-Bressons Interesse zunächst der Malerei.Auch das war nicht eben der Wunsch des Vaters gewesen, eines Textilfabrikanten.Er gehörte zu den etwa 200 führenden Familien Frankreichs.Henri sollte im Geschäft nachfolgen.Allein der Junge scheiterte schon dreimal beim Abitur.Gebildet hatte sich Cartier-Bresson mehr autodidaktisch durch die Literatur.Früh schon suchte und fand er Anschluß an Künstlerkreise."Mit zwanzig Jahren kennt er die meisten Schriftsteller der Avantgarde von Cocteau bis Dali", schreibt Jean-Pierre Montier in seiner großen, sehr lesenswerten Monographie (Cartier-Bresson: "Seine Kunst - Sein Leben", Schirmer/Mosel Verlag, München, 148 Mark).

Nach einem Studienaufenthalt in Cambridge reist er, einer romantischen Ader, folgend 1931 nach Afrika.Dort erkrankt er an Fleckfieber, fällt ins Koma und kehrt zurück.Doch seine ersten ernst zu nehmenden Fotografien, die anläßlich der Afrikareise entstanden, sind durch Schimmelbefall der Kamera fast alle unbrauchbar.In den folgenden Jahren, in Spanien oder Mexiko, in Deutschland und in den USA, entwickelt sich aus der fotografischen Praxis jene Philosophie des "entscheidenden Augenblicks".Der berühmt gewordene Begriff bezeichnet nicht allein eine fotografische Methode, einen Stil oder eine Art von Handschrift.Vielmehr ist er tatsächlich der Name einer Philosophie.Wenn jeder Augenblick der entscheidende sein und in der (fotografischen) Vollendung aufgehen kann, dann ist die letztlich eschatologische Vorstellung einer Chronologie der Ereignisse, eines Telos, einer Vollendung in Zukunft abgeschafft.Diese Idee markiert auch Cartier-Bressons Nähe zum Zen und zum östlichen Denken.Genau das ist die Magie seiner Fotografie: die Verbindung unseres Lebens mit einem anderen Leben.Den Zugang schafft die fotografische Form, die das Zufällige in der Kunst aufhebt.Für den Fotografen ist es der Moment, wo er intuitiv den Auslöser drückt und seine Technik vergißt.

RONALD BERG

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