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Kultur: Der Irrsinn ist ansteckend - ein Streifzug durch die aktuelle Moskauer Kulturszene

Ein Hauptthema der russischen Kunst und Literatur des letzten Jahrzehnts ist die Apokalypse. Die soziale, die psychologische, die geistige Apokalypse - die Apokalypse in der Gesellschaft, in der Welt und im persönlichen Leben.

Ein Hauptthema der russischen Kunst und Literatur des letzten Jahrzehnts ist die Apokalypse. Die soziale, die psychologische, die geistige Apokalypse - die Apokalypse in der Gesellschaft, in der Welt und im persönlichen Leben. Diese Faszination und Bedrückung setzt sich bis heute fort.

Im Kino spiegeln sich die Motive des Untergangs in der letzten Zeit in einer Hinwendung der Regisseure zur Hitler- und zur Stalin-Zeit (daneben entstehen "schwarze" Filme, wie die "schwarzen Romane" in der Literatur). Im letzten Jahr beeindruckte besonders Alexander Sokurows Film "Der Moloch". Jelena Spiridonowa, die darin die Figur des Doktor Goebbels verkörpert, ist eine der besten russischen Schauspielerinnen. Eine groteske Ader zeichnete die russische Kultur schon immer aus, hier aber überschreitet die Verbindung von Befremdlichkeiten alle gewohnten Grenzen. Goebbels als Frau und eine Frau als Goebbels, diesen superpsychoanalytischen Spagat hat die Darstellerin glänzend gemeistert.

Auch Stalin, früher ein Thema nur der filmischen Apotheose, wird jetzt nicht selten grotesk angegangen. Doch zugleich erwartet man in Russland mit Spannung eine umfassende Studie der Historiker Roj und Shores Medwedjew, die für dieses Jahr angekündigt ist. Titel: "Der unbekannte Stalin".

Wie ein Blitzeinschlag wirkt die Apokalypse des persönlichen Lebens in Alexander Stroganows Stück "Intime Beobachtung", das Alexander Dsekun im Moskauer Künstlertheater inszeniert hat. Stroganow ist ein Psychiater, der für sich das Metier des Dramtikers entdeckt hat. Sein Stückheld kommt zu seiner Dame, ohne zu ahnen, dass sie und ihr Bruder, die ein sonderbares Faible für Vögel haben, an einer versteckten Form des Wahnsinns leiden. Die Inszenierung zeigt mit modernistischer Raffinesse die ansteckende Wirkung des Irrsinns, der Held wird allmählich selbst verrückt und verschwindet in der Hölle.

Wie das Leben im postsowjetischen Russland ein Chaos sämtlicher (krimineller, nostalgischer, optimistischer) Lebensbestrebungen ist, so reflektieren das auch die Künste. Als besten Film des letzten Jahres bezeichneten viele Kritiker die "Blockstelle" von Alexander Rogoshin, einen Film über den Tschetschenien-Krieg, der ohne jede Schönfärberei vom Leben der russischen Soldaten erzählt. Und Stanislaw Goworuchin, Regisseur und Politiker, drehte in ähnlich veristischer Weise ein filmisches Porträt "Der Woroschilow-Schütze", das große Anerkennung fand.

Die Musikszene in Moskau und St. Petersburg wird immer jünger. Ihren Durchbruch feierte dabei die Gruppe "Die Verbotenen Trommler". Ihr Titel "Einen Neger umgebracht" ist extrem populär. Die Songs dieser und ähnlicher Gruppen artikulieren häufig Protest, extreme Gefühle und Aggressivität, die Texte verblüffen durch realistischen Witz und überraschende Wendungen. Das belegt auch Alexander Kuschnir mit seinem Buch "Hundert sowjetische Rock-Alben"; es ist die bisher genaueste Untersuchung und Bilanz der gegenwärtigen musikalischen Massenkultur in Russland.

Obwohl Schriftsteller im heutigen Rußland materiell relativ schlecht leben, haben die großen Buchläden trotz der Explosion der Buchpreise nach der Wende wieder ihr Publikum gefunden. Und die Theater sind überfüllt. Allerdings konzentrieren sich Schauspielhäuser in Moskau noch immer stark auf die Klassik (von Shakespeare bis zu Tschechow), oder man sieht immer neue Bühnenversionen klassischer Romane. Es fehlen die authentischen Gegenwartsdramen. Das Publikum reagiert darauf inzwischen mit einem gewissen Überdruß, darum wurde kürzlich Patrick Marbers "Hautnah", ein Londoner Gastspiel des National Theatre im Moskauer Mossowjettheater, mit Begeisterung aufgenommen. Das auch im Berliner Maxim Gorki Theater erfolgreiche Stück handelt von Liebesbeziehungen in Zeiten des Computer-Sex und weckte in Moskau ein allgemeineres Interesse für die aktuelle englische Dramatik. Daran läßt sich die Offenheit des Moskauer Publikums ablesen, sein Wunsch nach Kontakt zum Westen. Diesen Wunsch bestätigt übrigens auch der Erfolg der Ausstellung des deutschen Zeichners Horst Janssen in diesem Jahr im Puschkin-Museum.

Den ersten russischen Versuch mit einem Stück über virtuellen Sex (in dem also über die Hauptsache im Wesentlichen nur geredet wird) macht in Moskau übrigens der junge Regisseur Anton Kusnezow im renommierten Theaterstudio von Oleg Tabakow. Seine Inszenierung heißt in Anspielung auf den gleichnamigen amerikanischen Film "Sex, Lügen und Video".

Russlands Literatur verlor vor kurzem zwei durchaus altehrwürdige Dichter: Genrich Sapgir und Igor Cholin. Beide waren Vertreter der nonkonformistischen Lyrik der sowjetischen Periode, man nannte sie "Meister des poetischen Absurden", und beide traten häufig in Deutschland auf. Jetzt ist in der russischen Literatur sowohl realistische als auch überaus mystische Prosa gefragt. In der postsowjetischen Kunstprosa entstand sogar eine eigene Richtung: der neue Realismus. Seine Vertreter verbinden die Beschreibung des "alltäglichen Lebens" mit Hyperrealem oder gar Surrealem, ohne sich dennoch allzu weit von den Standards des herkömmlichen Realismus zu entfernen. So treten neben die im Westen bereits bekannten Autoren wie Andrej Platonow, Viktor Jerofejew und Vladimir Sorokin neue Namen: Alexej Warlamow, Swetlana Wassilenko, Dmitrij Lipskerow, Alexej Slapowski. Eine originelle Begabung ist dabei Jurij Koslow. Sein neuer Roman "Der Bittsteller" (die Veröffentlichung begann Ende 1999 in der Zeitschrift "Moskwa") beschreibt das neue Rußland als Welt, in der Wahrheit und Phantastik kaum noch zu unterscheiden sind. Und weiterhin lebhaft ist das Interesse an Krimis, kaum verwunderlich, wenn man die Kriminalitätsrate in Rußland bedenkt. Unübertroffene Meisterin des Genres ist Alexandra Marinina: die ehemalige Milizangestellte weiß, wovon sie schreibt. Verkaufsschlager sind im Übrigen auch Memoiren: von den Tagebüchern Salvador Dalís bis zu Sergej Primakows Erinnerungen "Jahre in der großen Politik".

Wer nicht selber große Politik betreibt in Russland nach den Präsidentschaftswahlen oder große Geschäfte, der wird sich an die These vieler europäischer Denker halten müssen: dass sich die menschliche Freiheit in der Kunst und Literatur am besten realisiere, da sie die Umstände des täglichen Lebens nicht beschränken. Das galt in Russland schon zu Zeiten der Zensur und der Verfolgungen, wenngleich damals nur im sogenannten Untergrund.Der Autor, 1931 in Moskau geboren, ist eine der legendären Gestalten des russischen Underground in den sechziger Jahren. Auf Deutsch sind drei seiner Bücher im Salzburger Residenz Verlag erschienen, zuletzt "Der Tod des Erotomanen". Mamlejew, der in Moskau Indische Philosophie lehrt, erhält dieses Jahr den Puschkin-Preis der Hamburger Alfred-Töpfer-Stiftung. Seinen Text hat Gabriele Leupold übersetzt.

Jurij Mamlejew

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