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Kultur: "Der jüngste Tag": Sterben, schlafen

Welch ein Kuss! Hoch oben, auf dem schmalen Viadukt.

Welch ein Kuss! Hoch oben, auf dem schmalen Viadukt. Bedroht vom Absturz, überschattet von Zeichen des Todes. Es ist die Gier des Ertrinkenden, die den Bahnwärter Hudetz den schmalen Leib der jungen Anna umklammern lässt. Langsam schlingt er eine Hand um den zitternden Körper des Mädchens, legt die andere dann hinzu wie ein Raubtier seine Pranke. So könnte Salome todestrunken den Kopf des Jochanaan liebkosen, und weiß wie der Mond, als hätte sie keinen Tropfen Blut mehr, wäre Hudetz die Anna auch am liebsten. Als könnte ihr Tod das Ableben der achtzehn Verunglückten sühnen, das Hudetz durch seine Unachtsamkeit verschuldet hatte. Einen kleinen Augenblick lang abgelenkt und unkonzentriert, und schon hatte er vergessen, die Weichen zu stellen. Wegen des bunten, flatternden Schmetterlings, der, tändelnd und tänzelnd, frech danach fragte, ob Hudetz, gedemütigt von seiner trunksüchtigen Frau, überhaupt ein richtiger Mann sei. Aber trifft Anna deshalb eine Schuld, weil sie den Bahnwärter in einem Anflug von Übermut geküsst und dadurch so verwirrt hatte, dass er seine Pflichten vergaß?

Die Schuld, die in Ödon von Horváths Schauspiel "Der jüngste Tag" verhandelt wird, ist eigentlich keine irdische mehr. Die tödliche Verfehlung des Thomas Hudetz mutet in dem 1935/36 entstandenen Stück eher wie die mythische Wiederkehr der biblischen Ursünde an. Mag sein, dass sich darin auch das Schuldgefühl des Schriftstellers spiegelt, mit seinem Schaffen den aufkeimenden Faschismus nicht aufhalten zu können. Mag sein, dass in der Figur des Bahnwärters auch Horváths von der Theodizee genährte Zweifel am eigenen Glauben personifiziert sind: Wie kann der Allmächtige es zulassen, dass sich ein kleiner Beamter just in einem der raren Momente flüchtigen Glücks einer solch schrecklichen Verfehlung schuldig macht? Besteht das Leben nur aus Pflichten? Und ist schließlich auch das vom Christentum stets tröstlich versprochene Jenseits ein Ort des Grauens, wie die Warnungen der ermordeten Anna im Finale andeuten, als Hudetz sich anschickt, sich durch Selbstmord der irdischen Gerechtigkeit zu entziehen?

In der Deutung Andrea Breths, die nach Edward Bonds "Die See" nun schon ihre zweite Inszenierung in der Ära Bachler am Wiener Burgtheater vorlegt, ist jedenfalls der irdische Schauplatz furchtbar: Ein düster-grauer Vorhang mit fahrigen Pinselstrichen wie von Alfred Kubin, die endlos los lange Felder andeuten, verdeckt immer wieder die Bühne. Darauf ist auch das Häuschen von Hudetz zu sehen, am Bahndamm, inmitten eines merkwürdigen Runenfelds. Bäume? Oder Grabsteine? Egal. Susanne Raschigs Bühnenbild hält noch viele andere Bedrohlichkeiten bereit: die Stahltraverse etwa, die wie ein Damoklesschwert über der Szenerie schwebt. Sie besteht aus zahlreichen Stegen, die vom Schnürboden abgesenkt oder von der Hydraulik wieder hochgehievt werden. Schmal ist dieses abstrakte Gewirr von angedeuteten Bahndämmen, Viadukten oder Tanzböden immer, geeignet für Abstürze aller Art, die vor allem in der zentralen Kussszene durch eine drohende Wolfsschlucht beschworen werden.

Es ist ein unerklärlicher, metaphysischer Sog, von dem der biedere Hudetz in Breths Deutung erfasst wird. Peter Simonischek spielt ihn mit zunächst stoischer Gelassenheit. Ein stiller Dulder, der eisern seine Frau verteidigt, obwohl Elisabeth Orth gehörig besoffen poltert, ein Unantastbarer, der fast schon zu viel Haltung zeigt, um seine später hartnäckig verleugnete Schuld plausibel zu machen. Jedenfalls hebt sich dieser Hudetz von der Tratschgesellschaft seines Dorfs, einer trostlosen 2000-Seelen-Gemeinde, wohltuend ab. Zumal sich Breth für das soziale Umfeld wenig interessiert: Es sind allesamt Karikaturen, die sie um den Bahnwärter scharzwenzeln lässt. Ob die schrille Schrulle, die Libgart Schwarz aus der nimmermüde lauschenden Frau Leimgruber macht, oder die pfundige, Bierkrüge stemmende Kellnerin Leni von Annette Paulmann, ob der augenrollend-eifersüchtige Ferdinand von Nicholas Ofczarek oder der ängstliche Gendarm von Cornelius Obonya - sie alle sind Kunstfiguren, mit Ausnahme Michael Königs als ausgegrenztem Drogisten. Eine Lach- und Schießgesellschaft, dazu angehalten, dick aufzutragen - um dadurch freilich den stets knappen, lakonischen Tonfall Horváths zu missachten. Das wirkt wie verfehlte Schubert-Interpretationen, die Romantik förmlich herauspressen wollen, um dann hoffnungslos ins Pathetische zu gleiten. Anstatt den Zug in Horváths vieldeutigen sozialen Windungen allmählich entgleisen zu lassen, fährt er im ICE-Tempo in den Abgrund.

Aber zum Glück gibt es noch die andere, mythisch-metaphysische Schicht. Und die gelingt Breth weit besser. Wie die beiden entscheidenden Begegnungen zwischen Anna und Hudetz, die genau genommen keine Begegnungen sind: So schmerzhaft distanziert traf selten ein Bühnenpaar aufeinander wie Peter Simonischek und Johanna Wokalek. Als verklemmtes Mädel legt die blutjunge Schauspielerin die Anna im ersten Auftritt mit ihrem Verlobten an. Zum übermütigen Backfisch wandelt sie sich, als sie Hudetz mit tänzerischen Schritten umgarnt, zur schuldbeladenen Mitwisserin nach dem Zugunglück. Was beide verbindet, ist einzig die Sehnsucht nach dem Tod. "Sterben - schlafen - nichts weiter": Hamlets Wunsch schwebt wie ein düsteres Leidensmotiv über dieser Inszenierung, die schwärzer kaum sein könnte.

Reinhard Kager

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