zum Hauptinhalt

Kultur: Der Katastrophen-Tsunami

China, Birma, Amstetten: über die Grenzen der Empathie im globalen Zeitalter

Von Caroline Fetscher

Unser tägliches Desaster gib uns heute? Ob wir danach fragen oder nicht – es wird auf alle Fälle gegeben. Das Unglück des Tages wird angesehen, aufgeregt konsumiert und oft überfordert abgelegt – bis das nächste Drama auf dem Bildschirm erscheint. Ein Zwölfjähriger fragt beim Abendessen: „Warum kommen in den Nachrichten eigentlich immer nur schlimme Sachen“ Das sei eben so, erklären die Erwachsenen, weil man friedliche Ereignisse nicht beachten müsse. Erst wo etwas in großer Unordnung sei, müssten alle hinsehen, damit geholfen werden kann.

Den Apologeten ist bei solch einem Versuch, die Nachrichten schön zu reden, nicht ganz wohl in ihrer Haut. Denn dem Sturm und Drang der bad news scheint in Zeiten wie diesen niemand gewachsen. Nicht ein einzelner Tsunami aus Salzfluten in Fernost bricht über die Bildschirme herein, sondern eine Fülle von Schrecklichkeiten, eine wahre Nachrichten-Riesenwelle. Kaum waren die Kellerkinder mitsamt dem häufig so titulierten „Inzestmonster“ von Amstetten „durch“, wie das vorläufige Ende einer Kurzkonjunktur im Redaktionsjargon gerne heißt, da wurden auch schon die neuesten Kühltruhen- und Mülltonnenbabies obduziert und für Schlagzeilen verwendet. Anderntags sind andere Mülltonnen dran, ohne Atempause taucht aus der Ferne neues Unheil auf. Sorgenzerfurchte Rotkreuzhelfer sprechen in die Kameras über Birmas Sturmopfer und störrische Zöllner an den Grenzen des Junta-Staates; Chinas Erdbebentote werden im stündlichen Count-up geliefert und um ein paar Schweigeminuten angereichert. Und dann werden in Südafrika auch noch die Fremdarbeiter attackiert, während der Dalai Lama vor den Toren des Auswärtigen Amtes vergebens auf politische Anteilnahme wartet.

Orkane verwüsten Landstriche in den USA, Hunger und Aids plagen die dysfunktionalen Staaten Afrikas. Weltweite Nahrungsmittelknappheit droht, der Artenschwund am Tropengürtel steigt. Ein Vulkan in Chile bricht aus – und schafft es nur in die Kurznachrichten. Zwischendurch soll der Armutsbericht der Bundesregierung die Gesellschaft aufrütteln, während Luxusleid entdeckt wird: Tatsächlich versinken doch einige Bürger in Depression, weil sie wegen eines plötzlichen Millionenerbes in die Krise geraten.

Neben alldem befinden sich Islamisten in Europa auf dem Vormarsch, Irans Regierungschef Ahmadinedschad will „dem Satan“ Israel den Garaus machen, Verschwörungstheoretiker bevölkern unsichtbar, doch wirkungsvoll die virtuelle Welt des Internet. Parallel zur Katastrophenflut der Öffentlichkeit wächst ein Gestrüpp unsortierter Gegenöffentlichkeit, voller Nischen für die Darstellung privater Katastrophendeutungen.

Längst ist – nicht zuletzt durch die Konkurrenz staatlicher und privater Medien – all das Traumatische zur Ware geworden, wie der Dichter Franzobel angesichts von Amstetten hellsichtig bemerkte. Das Desaströse mutiert zur wohlfeilen Währung an den Devisenbörsen des globalen Nachrichtenmarkts. Es findet seine Abnehmer, Groß- und Zwischenhändler, weil das Publikum es angeblich so haben will.

Unser tägliches Desaster gib uns heute: Wo das Katastrophische Quoten erhöht, kehrt sich das Verhältnis zum Desaster um, erklärt die Traumaforschung. Während der psychische Apparat daran arbeitet, Traumatisches zu verdrängen, um Schmerzfreiheit zu erlangen und die Balance wiederzugewinnen, versucht der Medienapparat, Traumatisches hervorzuheben und nachgerade zu produzieren, um möglichst viel an „Choc“ zu offerieren, wie Walter Benjamin die Reizüberflutung durch Unvorhergesehenes genannt hat.

Inszeniert wird ein täglicher Blitzkrieg wider die Psyche der Betrachter. Übel würden dadurch aufgedeckt, heißt es. Doch die Aufdeckung geschieht weniger im Sinne der Heilung – wonach Verdrängtes deshalb ans Licht geraten soll, damit es verarbeitet und später vermieden werden kann. Sie vollzieht sich vielmehr in Form eines ununterbrochenen Angriffs, der auf Verarbeitungspotenziale weder bei den Produzenten noch bei den Konsumenten Rücksicht nimmt. Solche Rücksicht würde Geduld beinhalten, Innehalten, das Darstellen von Hintergründen.

Auch das leisten viele Medien zwar, aber mit der Globalisierung der Aufmerksamkeit kann die menschliche Empathie kaum noch mithalten. Nächstenliebe ja; wenn die Philharmonie brennt, macht sich ganz Berlin Sorgen. Auch um die Oderflutopfer, damals 1997, es waren ja unsere Nachbarn. Thailand ist uns ebenfalls nicht egal, denn dorthin fährt man in Urlaub. Aber reicht das Potenzial der Nächstenliebe auch für ferne Tragödien, für Afrika, Birma, China? Wem soll man spenden, wer verdient mehr Mitleid, die Tibeter oder die chinesischen Erdbebenopfer?

Empathie wird erst möglich durch längere Narrative, nicht durch Schnellschüsse von morgen schon wieder vergessenen Opfern. Mit-Leid entsteht über Identifikation und die ist nur möglich, wenn man Zeit hat, sich ein Bild vom Leidenden zu machen, ihn zu erkennen, zu verstehen. Aber bei einem Zuviel an Bildern ist das Resultat nicht Einfühlung, sondern ein schizophrenes Verwirrspiel der Identifikationen, vor denen der Medienkonsument davonläuft. So produzieren die Massenmedien nicht nur Nachfrage und Quote, sondern auch ein Burn-out-Syndrom gegenüber Nachrichten.

Symptome dafür sind die schleichende Entpolitisierung, Entsolidarisierung, Parteienverdrossenheit, emotionale Abstumpfung und der berühmte Rückzug „ins Private“, wozu die wirre Welt der Chatrooms ebenso gehört wie die hohen Quoten der Soap-Operas als Angebote zur Identifizierung im überschaubaren Raum simpler Fiktion. Der Vorwurf kann gleichwohl nicht den Zuschauern gelten. Wer vermag schon, auf Dauer vertieftes, seriöses Interesse an kollabierenden, korrupten, defizienten, destruktiven Systemen oder verheerenden Naturereignissen aufzubringen, wenn sinnstiftende Erklärungen fehlen.

Ja, Medienkritik. Und ja, all das ist nicht neu. Die mitunter heikle Nähe von Mitleid und Voyeurismus, von Engagement und Katastrophentourismus gab es lange vor Erfindung der Medien. Die Konsequenz solcher Kritik wäre auch nicht das Abschaffen der Nachrichten. Das Fernsehen, die Presse, könnte aber beides ermöglichen, wenn etwa das Kriterium Zeit mutig zur Disposition gestellt würde: die schnelle Information und die geduldig begleitende, vertiefende Geschichte, mit deren Hilfe Tragödien seelisch verarbeitet und sozial wie politisch verstanden werden können. Auch das können die Medien sein: eine produktive Assistenz für unsere überforderte Empathie. Als Voraussetzung für aktive Hilfsbereitschaft.

Den Langzeitfolgen von – oder gar der Erfolgen nach – Katastrophen widmet man sich kaum. So folgt dem faktischen Desaster in Gestalt seines ritualisierten Konsums im schlimmsten Fall das emotionale Desaster: die Gleichgültigkeit einer Welt, deren Bewohner einander näher sind als je zuvor.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false