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Kultur: Der Kontakt des Zeichners

Schöner schreiben: Tanztheater aus Taiwan eröffnet das „In Transit“-Festival

Von Sandra Luzina

Eine gute Kalligrafie, sagen die Chinesen, ist wie ein fliegender Drache oder ein tanzender Phönix. Der poetische Vergleich zielt auf höchste Schönheit. Im Haus der Berliner Festspiele konnte man den Drachen nun fliegen sehen – und ein geheimnisvolles Universum aus tanzenden Zeichen entdecken.

Die Brasilianer laufen sich schon warm für die „Copa da Cultura“ als Festival im Festival „In Transit“. Doch die Eröffnung bestritten Lin Hwai-min und das Cloud Gate Dance Theatre aus Taiwan mit ihrer atemberaubenden „Cursive“-Trilogie. Festivalchef Johannes Odenthal ist ein Coup geglückt: Bislang war die Trilogie mit drei abendfüllenden Choreografien nur in Hongkong zu sehen. Der Choreograf – neben Filmregisseur Ang Lee der bekannteste Künstler Taiwans – hat sich von der altchinesischen Kunst der Kalligrafie inspirieren lassen: einem Schreiben, das zugleich ein Malen ist. „Cursive“ ist Chinesisch für Fortgeschrittene: Lin hat sich in den Kursivstil vertieft, eine besonders elegante Schrift, die flüssig und leicht wirkt.

Das Schreiben ist nicht mehr in erster Linie Ausdruck von Bedeutung, die Kalligrafen bringen vielmehr Temperament und künstlerische Fertigkeiten zum Ausdruck. So schrieb der im 4. Jahrhundert lebende Meister Wang Xizhi: „Jeder waagerechte Strich ist ein Wolkenhaufen in Schlachtordnung; jedes Häkchen ein Bogen von großer Spannkraft; jeder Punkt ist ein Felsen, der vom Gipfel stürzt; jeder rasch hingesetzte Strich ein Wettläufer am Start.“

In „Cursive“ kann der Zuschauer seiner Fantasie freien Lauf lassen, er kann Wolken, Vogelschwärme, Bogenschützen, fliegende Pfeile oder tanzende Krieger assoziieren. Er kann aber auch einfach der puren Energie folgen, die sich in den leeren Raum hineinschreibt. Zuerst schält sich nur ein gerundeter Arm aus dem Dunkel und schreibt eine Wellenbewegung. Die Welle wird zum Fluss, und aus dem schlichten Zeichen entsteht mit der Zeit ein riesiges abstraktes Gemälde aus Bewegung. Im leeren Raum erscheinen Passepartouts mit Projektionen von berühmten Beispielen der Kalligrafie. Die Tänzer imitieren nicht die Pinselstriche, sie spüren vielmehr der konzentrierten Energie des Schreibenden nach. Der Kalligraf tanzt mit dem Pinsel, Lin Hwai-min malt mit den Körpern. Hingetupfte Punkte, kräftige Striche, wilde Drehwirbel und fröhliche Spiralen – der Tanz ist ein langer ruhiger Fluss, und Lin Hwai-min spielt gekonnt mit dynamischen Wechseln.

Wenn der Gong dröhnt, geht eine schwarz gewandete Frau in die Hocke und spannt die Arme aus. Jede Phrase beginnt damit, dass der Tänzer sich sammelt. Aus der Mitte entspringt die Bewegung, die sich ausfächert und dabei delikaten Windungen und schlängelnden Linien folgt. Oft entspinnt sich der Tanz in hypnotischer Langsamkeit. Dann wieder lässt Lin Hwai-min die Bewegung explodieren, zeigt schnelle Beinkicks und die plötzlichen Drehsprünge eines Kung-FuKämpfers. Doch auch wenn die Bewegungen in den Lehren des Tai Chi und Qi Gong gründen: Lin, ausgewiesener Kenner der amerikanischen Tanzmoderne, hat die chinesische Bewegungsphilosophie fortgeschrieben und in eine wunderbare Kunstsprache übersetzt.

Die zehn Szenen entfalten sich wie ein chinesisches Rollbild. Paare ergänzen sich so perfekt, als wollten sie die Philosophie von Yin und Yang demonstrieren. Eine Frau wirft ihre langen Ärmel hoch und schreibt flatternde Zeichen in die Luft, bis die Körperkonturen verwischen. Hunderte von weißen Schriftzeichen tanzen wie ein Mückenschwarm durch die Luft – am Ende sind auch die Körper beschriftet und tätowiert.

Wie in den Ensembleszenen die Linien ineinander fließen, wie die Energie in alle Richtungen auseinander läuft und sich wieder zusammenzieht, ist von großer visueller Schönheit. Die Cloud-Gate-Tänzer verstehen es, Körper und Geist zu koordinieren, wie ein guter Kalligraf.

Dem ersten Teil der Trilogie liegt eine Art Kontrakt des Zeichners zu Grunde. Der Choreograf fühlt sich den Regeln der Kalligrafie verpflichtet. Das dritte Stück nennt er „Wild Cursive“, hier ist der Tanz von allen Regeln entbunden. Doch schon der erste Abend zeigt eine tänzerische Meditation des 59-jährigen Lin Hwai-min, deren Betrachten zum wundersamen Akt der Kontemplation wird.

„In Transit“, bis 4. Juni, Infos: www.hkw.de. „Cursive II“ 26. und 27. 5., „Wild Cursive“ 29. und 30. 5., Haus der Berliner Festspiele, jeweils 20 Uhr

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