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Kultur: „Der Kreml sucht eine nationale Idee“ Russland im Schulbuch: eine Historikerin erzählt

Am Sonntag wird ein neuer Präsident gewählt. Wie haben sich acht Jahre Putin auf das russische Geschichtsbild ausgewirkt?

Am Sonntag wird ein neuer Präsident gewählt. Wie haben sich acht Jahre Putin auf das russische Geschichtsbild ausgewirkt?

Das lässt sich gut erklären anhand eines Geschichtslehrbuchs, das im letzten Herbst erschien. Wie sich herausstellte, wurde es im Auftrag des Kreml geschrieben. Darin wird die Stalin-Ära insgesamt positiv bewertet, es dominiert eine antiwestliche, besser gesagt antiamerikanische Ausrichtung. Es ging dem Kreml aber nicht darum, Stalin zu rechtfertigen: Das Wichtigste sind die letzten acht Jahre der Regierung Putins. Diese Phase ist nur in positiven Tönen beschrieben: Die Kapitel über die Regierungsjahre Gorbatschows und Jelzins sind mit „Krise, Zerfall“ und „proamerikanische Politik“ überschrieben. Bei Putin heißt es „Wiederaufbau, Konsolidierung, Stabilisierung“. Das Buch war eine Art Prüfstein, mit der der Kreml prüfen wollte, wie darauf die Öffentlichkeit reagiert.

Und wie hat sie reagiert?

Es gab zwar eine große Zahl von Lehrern, die enthusiastisch gerufen haben: Endlich gibt es eine Anleitung, wie wir den Kindern beibringen, die Heimat zu lieben. Aber die kritischen Stimmen waren stark genug, um dem Kreml zu verstehen zu geben, dass er zu weit gegangen ist. Besonders gefreut habe ich mich darüber, dass ich zum ersten Mal überhaupt gemerkt habe, dass es eine Lehrerschaft gibt, die bereit ist, ihre Zweifel zu äußern. Das Gleiche gilt für die Eltern: Sie sind sehr kritisch aufgetreten.

Wie sah denn der Protest aus?

Vieles davon spielte sich auf Internetseiten ab. Das Bildungsministerium hat sogar eine eigene Internetseite zur Diskussion über neue Schulbücher eingerichtet. Das ist außergewöhnlich: Noch nie zuvor sind Schulbücher in Russland auf staatlicher Ebene zum Gegenstand von Diskussionen geworden. Das zeigt: Schule ist ein Bereich, der jeden betrifft und wo der Staat auf Widerstand treffen kann. Die letzten 20 Jahre haben eben doch etwas in den Köpfen geändert.

Welches Ziel verfolgt die Kreml-Administration mit dem Buch?

In Russland wird nach einer Staatsidee gesucht! Schon Jelzin gab 1996 den Auftrag: Wir brauchen eine nationale Idee. Alle fingen an zu überlegen, aber kamen auf nichts. Jetzt ist das wieder aktuell. Der Autor eines Schulbuchs zur Gemeinschaftskunde hat in einem Interview gesagt: In den letzten Jahren gab es eine zu negative Interpretation unserer Vergangenheit. Wir und unsere Kinder müssen aber stolz sein auf unsere Geschichte.

Welchen Unterschied spüren Sie als Historikerin im Vergleich zu den 90er-Jahren?

Die 90er-Jahre waren das goldene Jahrzehnt der russischen Geschichtsschreibung, denn die Staatsmacht war so sehr mit den eigenen Problemen beschäftigt, dass sie die Geschichte vergessen hat. Gleichzeitig gab es aber scharfe öffentliche Debatten. Die Menschen fragten sich „Wer sind wir, woher kommen wir?“ Damals war man sich einig in der Ablehnung der Sowjetzeit, der Staat versuchte eher an die Zeit vor 1917 anzuknüpfen.

Und heute?

Nach der neuen Konzeption soll der Historiker Patriot sein. Als der Autor des Schulbuches, Fillipow, für sein positives Stalin-Bild kritisiert wurde, hat er geantwortet: „Wussten Sie, dass 47 Prozent der Russen Stalins Taten positiv bewerten? Wir müssen auf die Stimmung in der Gesellschaft Rücksicht nehmen.“ Meiner Meinung nach ist diese Zahl für uns Historiker eher ein Grund, zu erkennen, dass etwas nicht stimmt. Warum 1989 14 Prozent Stalin als herausragenden Herrscher sahen, und jetzt so viel mehr!

Die patriotische Sicht auf die Geschichte führt zu Zerwürfnissen mit den Nachbarländern im Baltikum und Kaukasus.

In Russland und in den baltischen Ländern argumentieren die Politiker stark mit historischen Argumenten, aber es gibt keinen Wunsch, diese Argumente zu diskutieren. Die einen sagen: Okkupation anerkennen, entschuldigen, Kompensationen bezahlen. Russland sagt: nicht anerkennen, nicht zahlen, nicht entschuldigen. Wissen Sie, wer nach jüngsten Umfragen des Lewada-Zentrums jetzt die größten Feinde Russlands sind? Estland, Lettland, Litauen und Georgien. Deutschland ist übrigens auf dem dritten Platz der Freunde, nach Kasachstan und Belarus.

Das Gespräch führte Moritz Gathmann

Jelena Subkowa forscht als Historikerin für die Russische Akademie der Wissenschaften und die Moskauer RGGU-Universität. Ihr Spezialgebiet ist die sowjetische Nachkriegsära.

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