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Kultur: Der Kuss des Gelingens

Wo schlägt das Herz des Stadttheaters? Eine Reise nach Bochum – zum Ende von Matthias Hartmanns Erfolgsintendanz

Nie mehr sei im deutschen Theater vom „Glück“ die Rede, hatte die Kulturstaatsministerin zur Eröffnung des Berliner Theatertreffens gesagt. Das war 2004, und 2005 die gleiche Stimmung. Also sind wir aufgebrochen, um am Ende der Saison einmal zu sehen, wo es in Deutschland doch noch wohnt. Das Theaterglück. Auf dieser Suche gibt es kaum einen verheißungsvolleren Ort als – Bochum.

Die Zechen sind geschlossen, der VfL ist abgestiegen, und Opel hat in den Abgrund geblickt in Bochum. Nur das Theater scheint von einem anderen, glücklicheren Stern. Das zu zeigen, gibt es heute ein Fest. Kein roter Teppich, sondern ein riesiger Rollrasen ist schon Mitte der Woche vor dem Schauspielhaus ausgerollt worden. Wo man eben noch auf Stein stand an einer vielspurigen Straßenkreuzung, lagern in den ersten warmen Sommernächten auch lange nach Vorstellungsende die Paare und Passanten mit Picknickkörben bei Bier und Sekt: als wehte hier in den Pott ein Hauch von Glyndebourne. Tatsächlich aber feiern und trauern die Bochumer mit allen übrigen aus dem Rhein-Ruhrgebiet herbeiströmenden Fans, dass heute die fünf Jahre der Intendanz von Matthias Hartmann enden.

Sie strömen wirklich, mit Schweiß und Fleiß und einer schier unbegreiflichen Freude. In der Hitze, trotz Fußball-Confedcup, mitten in der Woche, viele ganz Junge. So sind in einer Stadt mit 390000 Einwohnern die Vorstellungen im Großen Haus und daneben in den Kammerspielen mit über 800 und über 400 Plätzen plus Kellerbühne für 99 Zuschauer jedesmal ausverkauft. Und gleich, ob ein dreistündiges, tiefernstes handlungsarmes Bildungsstück des verstorbenen Einar Schleef über den untoten Herrn Nietzsche läuft oder eine hochalberne Musical- und Volksstückparodie von Helge Schneider, sie feiern die Schauspieler, die Aufführungen – und „ihr“ Theater.

Das wirkt anders als in Wien oder in Salzburg zur Festspielzeit. In Bochum, wo es keinen Schick und keinen Mick gibt, sind die Theaterleute noch Popstars im Sinne von Volkskunsthelden. Da hört man schon am Bahnhof, nicht am ICEGleis, sondern im Dunstkreis der Bockwurst, die Leute übers Schauspielhaus reden. Dort haben einst Peter Zadek und Claus Peymann als Intendanten Triumphe gefeiert, mit Ulrich Wildgruber, Bernhard Minetti, Gert Voss oder Kirsten Dene. Und Bochum galt dank des legendären Schauspielgurus Saladin Schmitt schon in der Weimarer Republik als deutsche Shakespeare-Hauptstadt. Matthias Hartmann, der nun als Nachfolger von Christoph Marthaler das Zürcher Schauspielhaus übernimmt, ist der erste regieführende Intendant, der in Bochum keinen Shakespeare inszeniert hat. Trotzdem ist er, war er beispiellos erfolgreich.

Unter den beiden Peymann-Nachfolgern, dem puritanisch gewichtigen FrankPatrick Steckel und dem lustig luftigen Leander Haußmann, spielte die heimliche Theaterhauptstadt 13 Jahre oft nur noch am Rande des Abseits. Seit dem Herbst 2000 aber steigerte Hartmann die jährlichen Zuschauerzahlen von rund 100000 auf eine Viertelmillion, er hat die Abonnenten verdoppelt und die Besucherrekorde selbst von Claus Peymann aus den goldenen Achtzigern gebrochen.

Wenn das deutsche Stadttheater, wenn diese oft totgesagte, dennoch unsterbliche Mischung aus tanzendem Dinosaurier und brütendem Zeitgeist, ein Herz hat, dann schlägt es in Bochum. Als Peymann mit seinen Schauspielern nach Wien ans Burgtheater ging, sind ihm Bochumer Aficionados in Sonderbussen gefolgt. Auch jetzt erklären Bochumer Zuschauer Michael Maertens, dem von Berlin bis Wien gastierenden Star des Ensembles, dass er ihrer Liebe selbst in Zürich nicht entkommen werde.

Rational ist Liebe ja nie zu erklären. Allerdings hat die Bochumer Passion fürs Theater einen ebenso magischen wie verständlichen Ort. Das zwischen Finanzamt, Sparkasse, Pizzeria, griechischem Grill und vietnamesischer Reinigung in kleinstädtischem Ambiente gelegene Schauspielhaus ist ein großer Wurf. Eine elegant geschnittene Backsteinburg, vor 50 Jahren von Gerhard Graubner anstelle des zerbombten Theaters entworfen: mit fabelhaft dimensionierten Innenräumen, Bühne und Parkett haben für Spieler und Publikum so ideale Relationen wie sonst nur noch in den Münchner Kammerspielen – der einzige rundum geglückte Theaterneubau der Nachkriegszeit. Das freilich muss man nutzen können.

Hartmann hat es genutzt und genützt. Heute nach Mitternacht, wenn er sein Abschiedsfeuerwerk auf dem Dach des Schauspielhauses zündet, wird er 42. Dieser schlaksige, früh erkahlte, altjungenhafte Jubilar ist auf der deutschsprachigen Szene der gefragteste Mann. Er hätte, statt Zürich, auch das Deutsche Schauspielhaus in Hamburg haben können, das Deutsche Theater Berlin oder Wien, wenn Burgtheaterchef Klaus Bachler an die Münchner Oper wechselt. Wien könnte später kommen, mit Hamburg hat er geliebäugelt, doch zu Berlin sagt er: „Da gibt es für mich zu viele Besserwisser, zu viele unproduktive Konkurrenzen, zu viele Frontstellungen und Medienkämpfe.“

Hartmann ist der Sohn eines Osnabrücker Textilunternehmers, der um ’68 Drittweltläden gründete, und einer Waldorf-Lehrerin. Gegen zu viel Politisierung und Pädagogik ist er seitdem allergisch, unter Künstlern zieht es ihn zu den Bürgern, unter den Bürgern gleich wieder zu den Künstlern. Thomas Manns Tonio Kröger gilt ihm so als Identifikationsfigur. Als Theatermann möchte er populär sein, „aber nicht populistisch“. Er hat, nach schwierigem Anfang, in Bochum mit Schillers selten gespielter Karrieristen-Komödie „Der Parasit“ (Hauptrolle: Michael Maertens) das Publikum gefangen: ein unterhaltsamer Klassiker, in abgewrackter Kulisse piekfein, weil in jeder Gebärde effektbewusst inszeniert.

Das Perfekte und Wirkungssichere sieht man auch in einer der neuesten Hartmann-Regien, seiner Erstaufführung von Jon Fosses „Todesvariationen“: mit Barbara Nüsse und Hans-Michael Rehberg als erkaltetem Paar, dessen erwachsene Tochter sich, wie das Abbild ihrer Liebe, umgebracht hat. Eine lakonische, fast statuarische Elegie im exquisiten Halbdunkel der weißen leeren Bühne von Karl-Ernst Herrmann. Böse kann man dazu sagen: ein Menschenschatten-Designtheater. Anerkennend muss man sagen: Hartmann gewinnt für einen sperrigen, gänzlich diskreten Text ein großes, spürbar gespanntes Publikum.

Diese Ambivalenzen sind das Besondere bei Hartmanns Theater. Wohl kein anderes Haus hat neben Klassikern und gewollten Zugpferden – Otto Sander als Hauptmann von Köpenick oder dem Ruhrpottbarden Helge Schneider mit seinem „Wusical“ namens „Mendy“ – in diesen Jahren auch 32 Ur- und Erstaufführungen lebender Autoren gewagt. Ihre Namen prangen jetzt an der Front des Schauspielhauses, von Lukas Bärfuss, Sibylle Berg, Neil LaBute, Albert Ostermaier bis Moritz Rinke, Botho Strauß und Moritz von Uslar. Doch das im Ganzen gewiss erfolgreichste deutsche Theater ist in diesen fünf Jahren nicht ein einziges Mal zum Berliner Theatertreffen eingeladen worden.

Dorthin hatte es der Regisseur Hartmann schon mit Ende 20 geschafft. Aber der Intendant? Hartmanns großangelegte Uraufführung von Botho Strauß’ „Pancomedia“, seine unspekulativ konzentrierte Version von Becketts „Warten auf Godot“ (mit Harald Schmidt als Unglücksknecht Lucky) oder das ungewöhnliche Experiment mit Christian Krachts nach dem 11. September aktuell gewordenem Kulturkriegsroman „1979“: nie fürs Theatertreffen ausgewählt. Hartmann, der sich „ansonsten nicht beklagen kann“, merkt dazu an, dass in Deutschland die Paarung Kunst und Erfolg als verdächtig gelte und einige trendsetzende Theater, „die gerade die Widersprüche des Lebens spiegeln wollen, selbst ästhetisch und ideologisch sehr uniform agieren“.

Hartmann möchte im Theater, statt sich selbstreferentiell auf den eigenen Betrieb zu beziehen, Geschichten für ein großes, neugieriges Publikum erzählen. Wie im guten Kino. Sein intellektueller Partner war in Bochum der junge Berliner Dramaturg und Dramatiker Thomas Oberender, der mit ihm nach Zürich geht, aber schon 2006 als Schauspielchef zu den Salzburger Festspielen wechselt. Oberender meint, dass Hartmann von der Kritik zu sehr auf den Erfolg reduziert und seine Stil-Offenheit als Populismus ausgelegt werde. „Dabei ist er, durch seine handwerkliche Begabung gestützt, ein Künstler, der verschiedene Sprachen spricht: wie die Autoren, die er inszeniert, ob Strauß, Tschechow, Fosse oder Kracht. Er kann Trash so gut wie Hochästhetik.“

In Zürich wird Hartmann im September mit einem hochklassigen Ensemble – Jutta Lampe wechselt von Berlin in die Schweiz – mit der Uraufführung von Botho Strauß’ „Nach der Liebe beginnt ihre Geschichte“ starten. Strauß’ erotisch komischen Melancholien galt in Zürich schon einmal Hartmanns Neigung: bei seiner wohl besten Aufführung, dem „Kuss des Vergessens“ (mit der tollen Paarung Anne Tismer und Otto Sander). Damit sie ihn in Bochum nicht vergessen, hat er dort Molières „Menschenfeind“ noch einmal als Menschenfreund inszeniert. Michael Maertens verzweifelt als kulturkritischer Misanthrop so witzig wie versöhnlich an seiner (vermeintlich) gefallsüchtigen geliebten Celimène (Catrin Striebeck). Dabei ragt die Bühne ins Publikum, Szene und Parkett verdoppeln sich: die fidele, fatale Spaßkultur, das seid ihr, das sind wir. Dies ist heute Abend, souverän und selbstironisch, die Bochumer Abschiedsbotschaft.

MATTHIAS HARTMANN

(42), kam nach abgebrochener kaufmännischer Lehre als Autodidakt ans Theater und reüssierte schnell als Regisseur in Hannover, München, Zürich und Wien. Seit 2000 leitete er mit großer Resonanz das Schauspiel Bochum; jetzt wechselt er als Nachfolger von

Christoph Marthaler ans Zürcher Schauspiel.

In Bochum folgt ihm vom Residenztheater München Elmar Goerden (42), der Akteure wie Sebastian Koch, Burghart Klaußner und Manfred

Zapatka mitbringt.

Goerden startet mit

Peter Handkes „Stunde da wir nichts voneinander wussten“ und

Goethes „Iphigenie“.

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