zum Hauptinhalt

Kultur: Der Lack lockt

Das Museum Reina Sofia in Madrid eröffnet seinen Jean-Nouvel-Anbau mit einer Lichtenstein-Schau

Ein riesiger breiter Pinselstrich ragt in den offenen Raum. Er schießt gut zehn Meter auf, ein entschiedener Wisch, festgehalten als Skulptur aus bemaltem Aluminium. Das Werk stammt von Roy Lichtenstein und heißt schlicht „Brushstroke“. Es befindet sich als dauerhafte Installation mitten in dem Erweiterungsbau, den sich das Madrider Museum Reina Sofia derzeitvom französischen Architekten Jean Nouvel erschaffen läßt.

Die zwischen Malerei und Skulptur changierende Arbeit ist für ein neues Haus moderner Kunst gut gewählt: ein Ausrufezeichen in eigener Sache und zugleich ein Fragezeichen. Lichtensteins Pinselschwung inszeniert eine Urgeste der Kunst, die primäre Expression, den spontanen Farbauftrag. Aber das lackierte Aluminium, die comic-artigen Umrisse der erstarrten Schliere treiben dem Werk alle Spontaneität aus. Es feiert nicht nur den forschen Ausdruck, sondern lässt auch daran zweifeln: Kann man eigentlich noch drauflos malen? Und selbst wenn: Kann man Kunst noch unverstellt betrachten? Was lenkt den Blick, bevor es zum ersten Kontakt mit der Leinwand kommt?

Ihrer poppigen Knalligkeit zum Trotz ist Roy Lichtensteins Kunst durchaus kritisch; sie befindet sich in permanenter Selbstbefragung. Der Künstler spielt mit den Möglichkeiten der „Lektüre“, indem er von der Comicstrip-Malerei und Kopien geläufiger Gegenstände über die Variationen bekannter Meisterwerke und Genres bis hin zu gerasterten, halbabstrakten Landschaftsbildern wechselt. Er füttert den Betrachter mit Zeichen und lässt sich überraschen, welche Schlüsse man daraus ziehen mag – zwischen schlichter Wiedererkennung und abenteuerlicher Interpretation.

Das Museum Reina Sofia, Spaniens wichtigstes Ausstellungshaus für die Kunst des 20. Jahrhunderts, weiht seinen Anbau nicht zufällig mit einer Retrospektive des 1997 gestorbenen Popart-Pioniers ein. Mit Lichtensteins Werk holt man sich sogleich einen Prüfstein zum Gebrauch moderner Kunst ins Haus. Der Besucher wird mit vermeintlicher Trivialität konfrontiert und ist doch aufgefordert, die doppelten Böden durch Auseinandersetzung mit der Oberfläche selbst zu finden. Es kommt eben auf die „Reflektionen“ an. Und damit sind nicht nur die Spiegelungen gemeint, die in Lichtensteins Bilder hineingemalt sind, sondern auch die Rückkopplungen im Kopf des Betrachters.

Die gesamte Retrospektive mit ihren knapp 70 Arbeiten findet in einem einzigen Saal von 1000 Quadratmetern Platz. Es ist einer von zweien, die das Museum durch den Anbau hinzugewonnen hat. Im darunter liegenden, 200 Quadratmeter größeren Saal gastiert eine Ausstellung über Salvador Dalí und sein inniges Verhältnis zur Massenkultur. Die beiden Säle sind bisher der einzige zugängliche Teil des neuen Gebäudes. Stück für Stück sollen im Laufe der kommenden Monate die Bibliothek, verschiedene Veranstaltungssäle, der Bürobereich, das Restaurant mit Terrasse folgen. Und trotzdem wünscht sich der Architekt, dass sein Werk erst nach dessen vollständiger Übergabe kritisch betrachtet werde. Vergeblich: Schon zur Eröffnung der Lichtenstein-Ausstellung wurde moniert, sein gläserner Anbau respektiere weder das Haupthaus, noch füge es sich in die Umgebung ein.

Zumindest der erste Einwand ist richtig – und man braucht nicht das Ende des Innenausbaus abzuwarten, um dies zu erkennen. Trotzdem ist er kein Argument gegen Nouvels Architektur, denn schließlich soll sie ja gerade die massige Verschlossenheit des alten Gebäudes überwinden, das in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zunächst als Krankenhaus entworfen und als solches bis 1965 betrieben wurde. Patienten schirmt man nach außen ab, Kunst dagegen möchte man herzeigen. Für Transparenz ist Jean Nouvel der Richtige. Er treibt die Öffnung ins Extrem. Inmitten des neuen, dreieckigen Komplexes hat er einen öffentlichen Platz geschaffen, um den sich Ausstellungs-, Verwaltungs- und Veranstaltungsriegel fügen. Es dominieren Stahl, schimmerndes Aluminium und vor allem Glas. Die flirrenden Flächen vereint ein gewölbtes Flachdach aus rot gefärbtem Aluminium, das wie ein gekipptes Segel wirkt. Vorne schließlich, am stumpfen Ende des Komplexes, klebt als roter Würfel der große Veranstaltungssaal. Hier endet zwar der volksnahe Durchblick; aber die weiche und bonbonfarbene Form besitzt wenigstens eine Art einladende Knuffigkeit.

Mit dem Nouvel-Flügel gewinnt das Museum fast 27000 Quadratmeter hinzu, gut die Hälfte der bisherigen Nutzfläche. Im ehemaligen Krankenhaus wird der ständigen Ausstellung eine weitere Etage zugeschlagen; dadurch wächst sie um ein Drittel. Künftig wird das Haus samt Anbau kaum noch an einem Tag zu bewältigen sein. Besucher müssen ohnehin länger in Madrid verweilen, denn nur ein paar hundert Meter weiter nördlich wurde kürzlich der Anbau des Museums Thyssen-Bornemisza eingeweiht. Auch dessen beeindruckende Sammlung nimmt nun ein Drittel mehr Raum ein. Zwischen diesen beiden Polen wächst der Prado. Er soll bis Ende des Jahres seine Nutzfläche glatt verdoppeln. Das Trio der großen Kunstmuseen bekommt dann den Stempel „Paseo de Arte“ aufgedrückt, Promenade der Kunst. Ähnlich wie in Berlin (Museumsinsel), Washington (Museum Mall) und London (Museum Quarter) soll sich auch hier ein touristischer Synergieeffekt einstellen. Die Rechnung dürfte aufgehen, auch wenn ein Großteil der Erstbesucher anschließend an Übersättigung leidet.

Wenn alles fertig und eingeweiht ist, sind Lichtensteins Werke längst wieder in ihre jeweiligen Sammlungen zurückgekehrt. Nur sein gigantischer Pinselstrich bleibt auf dem freien Platz unter dem roten Dach von Jean Nouvel: als Monument an den ersten Wisch.

Museo Reina Sofia, Madrid, bis 27. September; Katalog 39 €. Ínformationen unter www.museoreinasofia.mcu.es

Merten Worthmann

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false