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Luther selbst ist nicht oft zu sehen in der Schau, hier aber doch: "Martin Luther im Kreis von Reformatoren", Gemälde von 1625/1650.

© DHM

"Der Luthereffekt" im Gropius-Bau: Die Wege des Herrn

Reformation global: Die Ausstellung „Der Luthereffekt. 500 Jahre Protestantismus in der Welt“ im Berliner Martin-Gropius-Bau lohnt sich nicht nur für religiös interessierte Besucher.

Wittenberg lag Anfang des 16. Jahrhunderts „am Rande der Zivilisation“. Und doch verbreiteten sich Martin Luthers revolutionäre Gedanken in kurzer Zeit in ganz Europa. 1517 veröffentlichte er seine Thesen, zwei Jahre später diskutierten die Gelehrten in Paris, Prag und Amsterdam darüber, 1521 landeten sie schon in London im Feuer.

Bei der Verbreitung der reformatorischen Lehren spielten Kaufleute eine wichtige Rolle, Luthers Ordensbrüder und die Humanisten sowie die Studenten, die von weit her an die Universität nach Wittenberg kamen. Auch Carl Holgersson Gera aus Stockholm war hier zu Gast und kaufte 1554 ein Exemplar der „Loci Communes“ von Philipp Melanchthon, der ersten evangelischen Dogmatik. Er nahm das Buch mit in seine Heimat und tauschte sich mit schwedischen Reformatoren darüber aus, und die machten die Schrift in Finnland und Estland bekannt. Jetzt liegt das Buch in einer Vitrine im Martin-Gropius-Bau. Eine Grafik zeichnet seine abenteuerliche Reise nach.

Es ist eines von 500 Exponaten der breit angelegten Ausstellung „Der Luthereffekt“. Sie zeichnet exemplarisch an den Ländern Schweden, USA, Korea und Tansania nach, wie sich der Protestantismus in den vergangenen 500 Jahren auf allen Kontinenten ausgebreitet hat. Heute lebt nur noch eine Minderheit der weltweit 800 Millionen Evangelischen in Europa. Die sehenswerte Schau wurde vom Deutschen Historischen Museum erarbeitet und ist die erste von drei nationalen Ausstellungen, mit denen Kulturstaatsministerin Monika Grütters die Feierlichkeiten zum 500. Reformationsjubiläum unterstützt. Die evangelische Kirche und die Bundesregierung haben immer wieder erklärt, dass sie den Geburtstag international feiern wollen und nicht deutschtümelnd verengt. Der „Luthereffekt“ löst diesen Anspruch ein.

Eine Schandbank von 1689 ist zu bestaunen

Von Luther ist nur wenig zu sehen. Das liegt daran, dass die Lutheraner global gesehen nur eine untergeordnete Rolle spielen. Eingangs erfährt der Besucher in groben Zügen, dass sich im 16. Jahrhundert in Wittenberg, Zürich und Genf Reformationen mit je eigenen Akzenten ausgeprägt haben. Besonders die Variante des Genfer Theologen Johannes Calvin entwickelte sich zum Exportschlager. Der neue Glaube veränderte die Lebenswelt der Menschen: Der Zölibat wurde abgelehnt und die Ehe aufgewertet, auf einmal mischten sich hier und da sogar Frauen in die theologischen Debatten ein – was die Ausstellungsmacher an der Flugschrift von Ursula Weyda zeigen.

Auch die blutigen Konfliktlinien sind zu besichtigen: Auf einem Gemälde aus dem 17. Jahrhundert zum Beispiel knien reformierte niederländische Adelige in Halseisen vor dem Thron des katholischen Herzogs von Alba. Im Hintergrund wird geköpft. Doch es gab auch Landstriche, die sich um Toleranz bemühten und pragmatische Lösungen fanden. Wie auf einem Gemälde zu sehen ist, nutzten die Bautzener Protestanten und Katholiken den Dom St. Petri seit 1524 gemeinsam. Die lutherischen Gottesdienste finden – bis heute – im Langhaus statt, die Katholiken feiern ihre Messen im Chor.

Die erste protestantische Staatskirche entstand im 16. Jahrhundert in Schweden. Die Herrschenden nutzten die neue Konfession zur nationalen Identitätsstiftung und nach außen, um sich als Schutzmacht der Protestanten Einfluss in Europa zu sichern. Auf dem Uniformrock von König Gustav II. Adolf aus dem Dreißigjährigen Krieg sind noch die Blutflecken zu sehen. Dass das Kleidungsstück die Jahrhunderte überlebte, lag daran, dass sich der König zum protestantischen Märtyrer stilisierte und selbst anordnete, dass sein blutverschmierter Uniformrock aufbewahrt und öffentlich gezeigt werden sollte. Die Religion wurde zunehmend auch zur sozialen Kontrolle der Untertanen eingesetzt. Wer nicht parierte, musste auf der Schandbank knien. In der Ausstellung ist ein abgenutztes Exemplar von 1689 zu bestaunen.

Beim Gang durch die Räume wird immer wieder deutlich, wie massiv die Protestanten in traditionelle, indigene Kulturformen eingriffen. In Schweden waren die Sámi die Leidtragenden. Durch den Zwang zum regelmäßigen Kirchgang mussten sie ihre nomadische Lebensweise aufgeben, Ahnenkult und Trommelrituale wurden verboten.

Im 17. Jahrhundert gingen die europäischen Glaubensflüchtlinge in der Neuen Welt einen anderen Weg. Sie hatten genug von verordnetem Glauben und gründeten eine Vielzahl unabhängiger Kirchen, die bis heute nebeneinander existieren. Am ernstesten nahm es der Quäker William Penn mit der Toleranz. In der nach ihm benannten Kolonie siedelten sich Quäker, Anglikaner und Presbyterianer aus England, Schottland und Wales an, dazu deutsche Mennoniten und Herrnhuter Brüder, Lutheraner und Reformierte, und auch die Katholiken waren willkommen.

Wie bunt die protestantische Welt von Anfang an war, zeigen Gemälde, Briefe von Missionaren und religiöse Alltagsgegenstände. Auch Gospel der Schwarzen sind zu hören, die ihre eigenen Gemeinschaften gründeten. Wie widersprüchlich es zuging, zeigt die Haltung zur Sklaverei: Während sich die Quäker für ihre Abschaffung einsetzten (was einzelne nicht davon abhielt, Sklaven zu halten), stritten die Baptisten in den Südstaaten mit theologischen Argumenten für die Beibehaltung der unbarmherzigen Praxis.

Südkorea und Tansania, zwei boomende protestantisch geprägte Länder

Die Ausstellung wagt den Sprung in die Gegenwart und stellt mit Südkorea und Tansania auch zwei heute boomende protestantisch geprägte Länder vor. Man erfährt, dass die ersten protestantischen Missionare Ende des 19. Jahrhunderts nach Korea kamen und schnell Anschluss fanden, weil das Christentum als Religion der Moderne und des bewunderten Westens galt. „Die koreanischen Protestanten begriffen das Christentum als Lehre, die jene des Neokonfuzianismus erneuern könne“, schreibt der Kirchenhistoriker Ryu Dae Young im sehr informativen Ausstellungskatalog. Im 20. Jahrhundert kamen Erweckungsbewegungen US-amerikanischer Prägung hinzu und predigten jenen Dreiklang aus Seelenheil, Gesundheit und persönlichem Reichtum, der Südkoreas Wirtschaftswachstum spirituell beflügelte. Heute sind über 20 Prozent der Koreaner evangelisch, und die fünf weltweit größten Kirchenbauten stehen hier.

Zu den wohl exotischsten Exponaten gehört der Bilderzyklus „Das Leben Jesu Christi“ des 2001verstorbenen koreanischen Malers Kim Ki-chang: Jesus wird zum konfuzianischen Gelehrten mit schwarzem Hut und weißen Strümpfen. Eine konfuzianische Fee verkündet Maria die Geburt eines Sohnes. Und statt der Heiligen Drei Könige bringen Frauen Essen – so wie es in Korea üblich ist, wenn eine Frau ein Kind geboren hat. Die Fremdheit der Darstellungen erinnert daran, wie kulturell bedingt auch der europäische Blick auf die Heilsgeschichte ist.

Luthers Glaube in Korea. „Die Verkündigung“ von Kim Ki-chang, um 1950.
Luthers Glaube in Korea. „Die Verkündigung“ von Kim Ki-chang, um 1950.

© Seoul Museum

Mit Filmausschnitten und einer eigens für den „Luthereffekt“ in Auftrag gegebenen Fotoreportage zeigt die Ausstellung, was vielen Europäern fremd geworden ist: Wie lebendig der Glaube an Christus für Menschen in Afrika ist und wie selbstverständlich er den Alltag prägt – Teufelsaustreibungen inklusive. Die christlichen Missionare aus Deutschland, Skandinavien und den USA bauten Schulen, predigten gut lutherisch das Evangelium in unterschiedlichen lokalen Sprachen und trugen dazu bei, dass Not und Unrecht gemildert wurden. Sie ließen sich aber auch immer wieder von den Kolonialmächten einspannen und wirkten mit an der Unterdrückung der Bevölkerung und der Zerstörung lokaler Traditionen.

So macht die Ausstellung in allen Teilen deutlich, dass Religion Chance und Abgrund zugleich sein kann. Sie half und hilft vielerorts mit bei der gesellschaftlichen und individuellen Emanzipation, sie ließ und lässt sich aber auch missbrauchen für politische Zwecke, für Zwang und Gewalt. Denn auch das macht die Schau deutlich: Wo Menschen etwas heilig ist, sind sie verletzlich und manipulierbar. Dies zu erkennen, geht weit über die Geschichte des Protestantismus und des Christentums hinaus und macht den „Luthereffekt“ zu einer Ausstellung, die sich nicht nur für religiös interessierte Besucher lohnt.

bis 5. November, Martin-Gropius-Bau, Mi–Mo 10–19 Uhr, Katalog: 29.90 €

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