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Kultur: Der Marathonmann joggt die Mitteldistanz

Sechs Stunden Kontemplation: Peter Stein liest Puschkins „Eugen Onegin“ im Haus der Festspiele

„Kommt doch näher, freie Platzwahl“, ermuntert der Mann jovial seine Zuhörer, die zahlreich, wenn auch nicht eben in Scharen, dem Schnee trotzend, ihren Weg ins Haus der Berliner Festspiele gefunden haben. „Schöner werde ich davon allerdings auch nicht“, fügt er noch hinzu. Muntere Koketterie à la Peter Stein! Zum einen wird der Regisseur wohl wissen, dass er in seinem grauen Anzug, wohl frisiert und von nobler Präsenz im Bühnenfokus, durchaus eine stattliche Erscheinung abgibt. Und zum anderen geht es bei dieser Veranstaltung natürlich zuallerletzt um den Liebreiz des Vorlesers und zuallererst um die Wohlgestalt des Wortes.

In Kooperation zwischen dem Literaturfestival Berlin und der Spielzeit Europa trägt der passionierteste Philologe des deutschen Gegenwartstheaters Alexander Puschkins Versepos „Eugen Onegin“ vor, und weil Stein sich nicht mit halben Sachen begnügt, wird das Werk selbstredend in Gänze zu Gehör gebracht, angesetzt auf sechs Stunden. Was für den Marathon-Mann, der in seinen Inszenierungen schon lange nicht mehr das Zeitmaß Normalsterblicher gelten lässt, allenfalls mittlere Distanz ist – hinter ihm liegen das 22- stündige „Faust“-Projekt, der Zehn-Stunden-„Wallenstein“, zuletzt eine zwölfstündige Fassung von Dostojewskis „Dämonen“, als „I Demoni“ auf seinem Landsitz in Umbrien zur Premiere gebracht.

Das Puschkin-Werk nun hat der Sprachkünstler Stein nicht selbst nachgedichtet, was ja auch niemanden verblüfft hätte, sondern er greift auf die geschmeidig-schlanke Version von Ulrich Busch zurück. Durch acht Kapitel, über 50 Verse zu je 14 Zeilen, belebt Stein die erstmals 1833 veröffentlichte Erzählung vom Petersburger Müßiggänger Eugen Onegin, die ja als Enzyklopädie des russischen Lebens berühmt wurde. Es wird, wie nicht anders zu erwarten, eine Feier der Kontemplation durch Literatur.

Ein Stuhl, ein Tisch, ein Buch – näher kann einer wie Stein, der so gern das Theater seiner Zeitgenossen schmäht, in dem das Unkonventionelle Konvention geworden sei, seinem Werktreue-Verständnis kaum kommen. Wer den Regisseur einst mit dem Textbuch in der Hand, kurzfristig eingesprungen für seinen verunfallten Hauptdarsteller Klaus Maria Brandauer, rezitierend durch die eigene „Wallenstein“-Inszenierung wandeln sah, der weiß, wie wohl sich Peter Stein als Herr über das Wort fühlt.

Tatsächlich besitzt er ein beachtliches Talent als Vorleser. Wie präzise er Puschkins polyphones, eine Vielzahl literarischer Gattungen durchmessendes, so lyrisches wie satirisches Meisterstück intoniert, das nötigt Respekt ab und zieht – ganz ohne Konzentrationseinbußen – in den Sog. Genüsslich ergeht er sich in den Beschreibungen einer ennuisatten Petersburger Jugend, mit sanftem Spott trägt er den Schmachtbrief der unglücklich in Onegin verliebten Tatjana vor. Und wer etwa unterstellt hätte, es ginge Stein bei dieser Lesung um elitäre Bildungshuberei, dem wird mit Puschkin schon zu Beginn ironisch der Wind aus den Segeln genommen: „Ein bisschen lernten wir ja alle, wohl irgendwas und ungefähr, so ist gottlob in unserem Falle, mit Bildung glänzen gar nicht schwer.“ Patrick Wildermann

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