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Kultur: „Der Mut zur Tat braucht einen neuen Patriotismus“

Wie meistern wir die deutsche Krise? Der Berliner Historiker Arnulf Baring hat das Land elektrisiert. Er fordert politische Kur an allen Gliedern

Herr Baring, Sie haben mit Ihrem Manifest „Bürger, auf die Barrikaden!“ einen Nerv der Gesellschaft getroffen. Ist die deutsche Politik zu entscheidenden ökonomischen und sozialen Reformen nicht mehr fähig?

Ich hoffe es nicht und fürchte es doch. Schon im Wahlkampf ging es kaum mehr um substantielle politische Probleme, vielmehr um Demoskopie und Medienwirkung. Alles, was an den Kern der Krise rührt, wurde tabuisiert. Nehmen wir die PisaStudie. Da wird auf eine offenkundige Bildungsmisere nur wieder technokratisch und formal reagiert: In Berlin mit einer Oberstufenreform, die Schlüsse aus Pisa pseudowissenschaftlich ins Gegenteil verkehrt, außerdem überall mit Rahmenrichtlinien, mit der Forderung nach mehr Geld für Ganztagsschulen.

Ganztagsschulen sind angesichts von arbeitenden Eltern, die ihre Kinder tagsüber nicht betreuen, geschweige denn erziehen können, mehr als eine Formalie.

Schon da beginnt das Problem! Die Erziehung, die früher die Familien leisteten, wird an die Horte, dann an die Schulen und damit an den Staat delegiert; der aber ist nicht in der Lage, Bildungsinhalte oder gar Ideale zu formulieren, die in der Gesellschaft selbst immer weniger vorhanden sind. Bildung muss mit so etwas wie Herzensbildung beginnen, im Sinne von Thomas von Aquin: mit Wahrheitsliebe und Menschenliebe. Wie peinlich weit wir davon entfernt sind, darüber schweigen die Politiker genauso wie über den Ernst der wirtschaftlichen Lage.

Wird zur Wahrheitsliebe ein entsprechender Ausschuss des Bundestages beitragen?

Überhaupt nicht. Ich halte den „Wahrheitsausschuss“ für ein taktisches Ausweichmanöver. Auch Unionspolitiker hatten genug Informationen über die Haushaltslage. Nein, alle Parteien scheuen davor zurück, der Bevölkerung reinen Wein einzuschenken, weil sie schon an die nächsten Landtagswahlen denken und nicht sicher sind, wie die Leute auf eine Schweiß- und Tränenrede – Blut steht ja nicht zur Debatte – reagieren würden.

Ist die Bevölkerung für diese Rede nicht schon reif seit der Wiedervereinigung?

1990 wäre der historische Augenblick dafür gewesen, das war Kohls Versäumnis. Aber auch jetzt ist die Bevölkerung zu Opfern bereit, wenn man ihr offen und mit erkennbaren Perspektiven erklären würde: Wir sind in einer dramatischen Situation, aber wir haben die Kraft und die Ideen, die Krise zu lösen! Wenn die Staatsverschuldung jede Sekunde um 1265 Euro steigt, hat man doch keine andere Wahl!

Trotzdem haben Sie Ihre Zweifel an der Reformfähigkeit der Bundesrepublik geäußert.

Ja, weil die großen Parteien immobil wirken und von gruppenegoistischen Interessenverbänden dominiert werden. In der SPD-Fraktion des Bundestages sitzen vier Fünftel Gewerkschaftler, rund achtzig Prozent aller Parlamentarier sind entweder Gewerkschaftler oder Beamte. Wir haben eine Verbandsdemokratie, eine schlafmützige Konsensgesellschaft. Auch der politische Nachwuchs kommt schon lange nicht mehr aus einem breiten Spektrum gesellschaftlich relevanter Berufe; das sind berufspolitische Funktionäre aus den Parteien selbst oder aus Behörden und Verbänden.

Eben hat der Kanzler in der „Zeit“ den Verbänden den „Kampf“ angesagt. Die Bundesrepublik galt einst als das effizienteste und modernste Gesellschaftsmodell Europas. Nach der Wiedervereinigung ist der Elan vital rasch versiegt. Was macht es denn so schwer, die deutsche Krankheit zu kurieren?

Es ist gewiss ein Problem fehlender politischer Köpfe – doch nicht allein des Kopfes. Um Krisen einer Nation zu lösen, sind auch positive Gefühle, ist gemeinschaftlicher Zusammenhalt nötig. Positive öffentliche Emotionen aber sind in Deutschland seit dem Desaster mit Hitler stillgelegt. Wir werden ohne ein neues Gemeinschaftsgefühl, ohne einen neuen Patriotismus mit der Konsolidierung Deutschlands nicht zu Rande kommen. Ein Stück Patriotismus, bescheiden und ohne Großmannsallüren, ist notwendig. Alt-68er wie Joschka Fischer sagen, dass die Grundlage unserer Identität Auschwitz sei. Das halte ich für fatal. Auschwitz dürfen wir natürlich nie vergessen. Aber trotz aller historischen Fehler kann die Grundlage unserer Identität nur ein halbwegs positives Verhältnis zu uns selbst sein. Wer sich selbst nicht mag, kann auch andere nicht mögen, er entwickelt keine Überzeugungskraft nach innen oder nach außen.

Dennoch gründen unsere aktuellen Probleme nicht im Verhältnis zur Nazizeit.

Nein, aber wir brauchen eine nationale Anstrengung, und die setzt auch identitätsstiftende Energien voraus, die nicht aus einem blassen „Verfassungspatriotismus“ à la Sternberger und Habermas kommen. Der Bundesrepublik, vor allem der alten, die schon die ökonomische Erblast der DDR kaum noch erträgt, brechen mehr und mehr die Fundamente des Wirtschaftswunders und des Erhardschen Wohlfahrtsstaates weg – was aber trägt uns in einer Phase der Dekadenz?

Noch sind wir eine der stärksten Industrienationen, mit beträchtlichem privatem Reichtum. Und einer bisher ziemlich tragfähigen Verfassung. Die aber stellen Sie auch in Frage.

Weil ich mich frage, was passiert, wenn sich Parlament und Parteiensystem trotz aller Einsicht als nicht handlungsfähig erweisen.

Wer sollte stattdessen handeln? Sie denken offenbar an ein Präsidialsystem nach französischem Muster.

Das ist eine Idee, die man zumindest diskutieren sollte. Die Entwertung des Parlaments betreibt der Bundeskanzler, indem er immer neue außerparlamentarische Kommissionen beruft, deren Empfehlungen dann wie bei Hartz von den Verbänden und Lobbys zerpflückt werden, bevor sie das Parlament überhaupt verhandelt. Außerdem wäre jede Bundesregierung handlungsfähiger, wenn nicht permanent Landtagswahlen wären.

Also weniger Bundesländer?

Das ist nicht der Kern. Ich bin für den Föderalismus, obwohl ich auf ein selbständiges Saarland oder Sachsen-Anhalt verzichten könnte. Aber man sollte alle Landtagswahlen mit der Bundestagswahl verbinden.

Schröder schlägt jetzt vor: die Hälfte der Landtagswahlen zur Mitte der Legislaturperiode.

Besser alles auf ein Mal. Darüber hinaus sollte das Verhältnis von Bund, Ländern und Gemeinden neu geordnet werden: Klare Eigenverantwortung auf allen drei Ebenen, klare Finanzzuweisungen, weniger Mitwirkungsrechte des Bundesrats bei bundesstaatlichen Gesetzen. Die zahlreichen Mischfinanzierungen sollten beseitigt werden. Auch Schulen und Hochschulen brauchen mehr finanzielle Eigenverantwortung. Warum darf eine Hochschule nicht selbst entscheiden, ob sie Eingangsprüfungen macht oder Studiengebühren erhebt und damit vielleicht ihre Leistungen steigern kann? Denken Sie an Mao: Lasst tausend Blumen blühen! Wenn der Staat kein Geld mehr hat, muss er um so mehr Kreativität und Eigeninitiative fördern.

Sie haben vom Mut zur Wahrheit und von notwendigen Opfern gesprochen. Wären Sie als Pensionär zu eigenen Opfern bereit?

Natürlich. Ich wäre aus psychologischen Gründen sogar für eine Luxusstreuer, obwohl sie wenig bringt! Wenn jemand 80 000 Euro und mehr für ein Auto ausgeben kann, dann kommt es ihm auch auf zehn Prozent mehr nicht an! Nur so kann die Überzegung wachsen, dass alle gemeinsam Opfer bringen. Das Gesamtpaket ist wichtig. Wenn Renten oder Pensionen runtergehen, dann müssen gleichzeitig die Subventionen gekürzt werden. Andererseits müssen die Lohnnebenkosten sinken und das Tarif- und Arbeitsrecht dereguliert werden, damit mehr Arbeitsplätze entstehen.

Wenn Sie jünger wären, müssten Sie doch jetzt eine eigene Partei gründen.

Nein, ich hoffe nach wie vor, dass sich die Parteien aus sich heraus berappeln. Wir haben mit populistischen neuen Parteiführern wie Schill, Haider oder Berlusconi keine guten Erfahrungen gemacht. Am interessantesten erschien mir zeitweilig Pim Fortuyn. Aber ich bin Publizist, kein Politiker.

Was sollte sich bei uns noch ändern?

Die demographische Katastrophe muss ins Bewusstsein dringen. Nach heutigen Einschätzungen wird sich unsere Bevölkerung bis zum Ende des Jahrhunderts halbieren, das kann man nicht mit mehr Zuwanderung kompensieren. Familien müssen so gestellt werden, dass sie sich Kinder leisten können. I n unserer Familienpolitik wird tabuisiert, dass es eine halbe Million Euro kostet, ein Kind großzuziehen. Damit hängt zusammen: Generationengerechtigkeit wird seit Jahrzehnten missachtet. Die Politik bevorzugt die Alten und schädigt die Jungen, von der Bildung über den Arbeitsmarkt bis zu den Renten. Das ist ungeheuerlich! Weiter: Zuwanderer müssen sich auf eigene Kosten und mit eigenen Anstrengungen in die deutsche Sprach- und Kulturgemeinschaft integrieren. Ganz allgemein gilt: Wer sich aus öffentlichen Mitteln unterstützen lässt, muss auch eine entsprechende Gegenleistung für die Gesellschaft erbringen.

Roman Herzog hat…

Gut, dass Sie ihn erwähnen! Herzog, von Haus aus Jurist, hat kurzerhand die Streichung von ungefähr einem Drittel aller Vorschriften in Deutschland gefordert, die der Wirtschaft so stark zu schaffen machen. Die meisten Regularien engen nur ein und schwächen Eigenverantwortung und bürgerliches Engagement.

Ihr FAZ-Aufsatz „Bürger, auf die Barrikaden!“ hat uns an Herzogs „Ruckrede“ erinnert. Das war damals die Totenglocke der Ära Kohl.

Aber Herzogs Rede hat über einen Regierungswechsel hinaus leider nichts verändert. Der Fehler damals war: Man darf so eine Rede nicht in einem Hotel nur vor Berliner Vertretern der Wirtschaft halten. Die Rede hätte in den Reichstag gehört – damals noch ohne Dach, unter der offenen Kuppel.

Weil die Lage zum Himmel stinkt?

In der Tat! Und dann hätte ein starker Präsident diese Rede so lange wiederholen müssen, bis die Politik in Deutschland endlich Konsequenzen zieht.

Das Gespräch führten Peter von Becker und Moritz Schuller.

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