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Kultur: Der Namenlose

Rickie Lee Jones porträtiert Jesus mit einem beeindruckenden Album

Sie hatte den Olymp der Singer/Songwriterinnen erklommen. Aber das Dasein einer umwölkten Legendengestalt bekam ihr nicht. Sie entschwand. Was ist passiert, dass Rickie Lee Jones, die neben Joni Mitchell wichtigste Musikerin ihrer Generation, mit einem Album auf die Erde zurückkehrt, das außergewöhnlich ist, obwohl sie es nicht selbst geschrieben hat?

Vielleicht liegt das Geheimnis in dem rührend simplen Auftakt-Riff, mit dem „The Sermon on Exposition Boulevard“ anhebt. Achteltöne, schleppend aus den Saiten einer E-Gitarre geschlagen, geben den Rhythmus vor, den schon bald eine zweite düstere Gitarre und der Rest einer kleinen Band ergänzen. Drei Akkorde. Mitten im Takt fällt plötzlich Rickie Lee Jones helle, wiehernde Sirenenstimme über sie her. „For a thousand years I lay upon ... “, klagt sie und reiht rätselhafte Bilder von umherirrenden Seelen, flüssigem Asphalt und Menschen aneinander, die sie vergessen haben. „Now I walk among them and I see them, and I open up my wrists and nobody knows my name...I look at you. Do you know my name? Say it...do you know my name? Do you know my name?“ Man muss nicht jedes Wort verstehen, um zu begreifen, dass es sich um eine Séance handelt. Für drei Minuten versetzt sich die Sängerin in Jesus, der aus einem zeitlosen Schlaf erwachend nicht mehr weiß, wer er ist.

Tatsächlich stellt „Nobody Knows My Name“ eine Art Initialzündung dar. Rickie Lee Jones war im Sommer 2005 zum Exposition Boulevard in Culver City gereist, wo sie Passagen aus dem Buch eines Freundes vorlesen sollte. Der jüdische Fotograf, Autor und Weltenbummler Lee Cantelon hatte eine Neufassung der Botschaften von Christus geschrieben („The Words of Jesus“), die er mit prominenter Hilfe zu einem Hörbuch machen wollte. Rickie Lee Jones sprach ein paar Sätze und meinte: „Das funktioniert für mich nicht.“ Sie wolle lieber singen, sagte die Frau, deren Wahlspruch einmal „We live on the jazz side of life“ verhieß. Als sich die Studiotür hinter ihr schloss, muss etwas von diesem jazzigen Wagemut von ihr Besitz ergriffen haben. Rickie Lee Jones verfiel in einen improvisierten, eruptiv-mäandernden Sprechgesang, der die Verzweiflung von Jahrhunderten zu schultern schien und gleichzeitig abschüttelte. Sie brauchte dreieinhalb Minuten, um das Projekt an sich zu reißen.

Danach gab es mehr Fragen als Antworten. Wie sollte es weitergehen? Cantelon entschloss sich, lieber eine Rickie-Lee-Jones-Platte zu machen, als am Jesus- Sprech festzuhalten – und lud alle anderen Teilnehmer wieder aus. Er und sein Kompagnon, der Gitarrist Peter Atanasoff, nahmen sieben Songs mit Jones auf. Und als das Projekt ins Stocken geriet, wandte sich die Sängerin, der es längst um eine Herzensangelegenheit ging, an den Starproduzenten Rob Schnapf. Mit dessen Hilfe brachte sie das krude kleine Low-Budget-Werk zuende und mit „Falling Up“, „It Hurts“ und „Circles In The Sand“ sogar ein paar fantastisch eingängige Popsongs zustande.

Mit christlichen Erbauungshymnen hat „The Sermon“ nichts zu tun. Es sei vielmehr ein Album, sagt die Künstlerin, „das sich mit Jesus beschäftigt, ein Porträt“. Und so schnattert, flucht und zetert sie, wimmert, flüstert, schreit und wühlt sich vor allem wohl durch ihre eigenen Versagensängste, für die sie in dieser Leidensfigur den Spiegel findet.

Das ist grandios, umso mehr, da man es nicht mehr erwarten durfte von einem 52-jährigen Popstar, dessen größte Zeit ein Vierteljahrhundertzurückliegt. Schon verblasst die Erinnerung an ihr fulminantes Debüt 1979. Damals posierte sie als lässige Bohème-Diva mit rotem Barrett und Zigarillo, die Augen demonstrativ auf die Asche gerichtet. In ihrem Hit „Chuck E.’s In Love“ und etlichen weiteren Songs präsentierte sie sich als versierte Erzählerin von Kurzgeschichten, die ein Repertoire abgehalfterter, verschrobener Gestalten bevölkerte. Da gab es Chuck E. Weiss, den Musikerkollegen und Saufkumpanen, der sie nicht mehr anrief, weil er sich verliebt hatte – in sie (den gab es sogar wirklich). Da war Sal, der Marder, der sich als armer Junge tarnte und auf dem Sozialamt in der Schlange ausflippte. Oder Bragger und Junior Lee, die sich begegneten wie zwei aufgedeckte Asse. Schließlich Woody und Dutch, die Stricher, die mit 14 in der Zelle tanzten, wofür Rickie Lee Jones eine feurig-brodelnde Funk-Bigband aufbot.

Sie war die Chronistin eines unbehausten Lebensstils, der auch in ihrem Blut kochte als Zögling einer Familie aus „Lower-Class- Hillbilly-Hipstern“ – ihr Großvater war der einbeinige Showtänzer Peg Leg Jones, ihr Vater schleifte seine Brut im Streben nach musikalischem Erfolg quer durch die USA. Sängerin war mit 24 ihr erster anständiger Beruf, nachdem sie aus regulären Jobs immer wieder gefeuert worden war. Nach dem Grammy-veredelten Blitzstart sprach der „Rolling Stone“ vom „runaway success“ einer Vagabundin, die einem Roman von Kerouac hätte entstiegen sein können. Schon nach der zweiten Platte („Pirates“) war der Zenith überschritten. In den zehn Alben seither blieb sie meist im Gestrüpp aus Folk-, Jazz- und Pop-Einflüssen hängen. Erst „The Sermon“ klingt wieder wie etwas, das man niemals hätte planen können.

Nach kurierter Drogensucht, Alkoholproblemen, dem domestizierten Exil als Mutter und ihrem Engagement in der Anti-Bush-Liga war es wohl ein Glücksfall für Jones, dass sie in diese Platte wie in ein fremdes Auto eingestiegen ist, das zufällig dieselbe Richtung fuhr. Sie habe die „Queen of Music“ werden sollen, vertraute die Katholikin einmal dem „New Yorker“ an. Aber sie versagte. So wie Jesus versagt, als er sich wappnet gegen die Schmerzen. „Tried To Be A Man“ heißt Jones Antwort auf die schwarze Stunde, wenn man begreift, nicht der zu sein, der man sein möchte. Sie habe ein halbes Leben gebraucht, gesteht sie, das nicht mehr als moralische Schande zu empfinden.

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