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Kultur: Der neue Krieg – und wir

Die Selbstmordattentate in Istanbul, im Irak und in Israel setzten die Strategien des 11. September 2001 fort. Anders als traditionelle militärische Kamikaze-Attacken treffen sie die technologisch überlegenen westlichen Gesellschaften in ihrem zivilisatorischen Selbstverständnis

Die Planer der Selbstmordattentate, nicht unbedingt die Attentäter selbst, haben herausgefunden, wie westliche (oder westlich orientierte) Gesellschaften am leichtesten anzugreifen und wo sie am verletzlichsten sind. Wer dabei nur auf die unmittelbaren physischen Wirkungen dieser Attentate – die Zahl der Toten, das Ausmaß der Schäden – schaut, übersieht, wo der eigentliche Angriff erfolgt und wo ihm der folgenreichste Einbruch in die Strukturen unserer Gesellschaft gelingt: Es sind vor allem die durch die Medien verstärkten und vervielfachten psychischen Wirkungen, mit denen unser Selbstverständnis, unser Sicherheitsbedürfnis und unser Zukunftsvertrauen erschüttert werden.

Jede Form der Terrorbekämpfung hat also damit zu beginnen, dass wir unsere Einstellungen und Erwartungen durch mehr – wenn man so will: heroische – Gelassenheit befestigen. Wenn Terrorismus eine Strategie ist, die über psychische Effekte angreift, so ist hier die erste Widerstandslinie zu errichten.

Selbstmordattentate haben mindestens drei Dimensionen: eine symbolische, eine instrumentelle und schließlich eine ethische. Zunächst zur symbolischen: Jeder Selbstmordanschlag kommuniziert die extremste Entschlossenheit bei der Verfolgung von Zielen. Selbstmordanschläge sind darum immer auch ein Angriff auf die Kultur des Interessenausgleichs und des Kompromisses. Und sie sind ein Angriff auf Zivilisationen, für die die Lebenserhaltung zum wichtigsten Wert, zum Selbstzweck, geworden ist. Sie sind der Einbruch des Heroischen in eine postheroische Welt, wodurch sie sämtliche von dieser Welt entwickelten Mittel und Methoden der Abschreckung wertlos machen.

Wir neigen dazu, auf diese Konfrontation zu reagieren, indem wir das Heroische unter den Verdacht der Irrationalität stellen. An unseren zivilisatorischen Standards des Rationalen gemessen, mag das richtig sein. Aber es verfehlt die spezifische Ratio der Selbstmordattentäter.

Diese ist nicht zuletzt in der instrumentellen Dimension dieser Art von „Kriegführung“ zu suchen. Die Bereitschaft zur Selbstopferung stellt eine dramatische Erhöhung der Angriffsfähigkeit kleiner Gruppen dar, insofern weder materielle Ressourcen noch Personen noch Mittel für die Sicherung des Rückzugs bereitgehalten werden müssen. Alle Energien können auf den Angriff gerichtet werden. Auf diese Weise werden Operationen Wirklichkeit, die sonst unmöglich wären. Terrorismus und Selbstmordanschläge im Besonderen sind die Form, in der sich an Ressourcen und technischen Möglichkeiten schwache Akteure angriffsfähig machen.

Freilich beruht diese Angriffsfähigkeit darauf, dass nicht militärische, sondern wesentlich zivile Ziele angegriffen werden. Das macht den Unterschied heutiger Selbstmordattentäter zu den japanischen Kamikaze-Piloten in der Endphase des Zweiten Weltkriegs aus. Würde die Herausforderung durch Selbstmordattentäter nur darin bestehen, dass sie Kriegsschiffe, wie etwa die „USS Cole“ im Hafen von Aden, angreifen, so würde uns dies bei weitem weniger erschüttern. Es wäre eine Form von Gewaltanwendung, die auf das dafür professionalisierte Personal begrenzt bliebe. Dieses könnte sich durch erhöhte Vorkehr sichern. Die Strategie der Selbstmordattentate schlägt aber gerade dort zu, wo Gewaltanwendung und Gewaltprävention nicht der Beruf der Angegriffenen sind. So erst greift sie tief in die psychische Infrastruktur unsere Gesellschaft ein. Sie verändert das Fluggastaufkommen, lenkt Touristenströme um, versetzt die Börse in Turbulenzen und schafft so jene Unsicherheiten, von denen die Strategie terroristischer Anschläge erst richtig profitiert.

Weil sich die Angriffe gegen Zivilisten und zivile Ziele richten, nennen wir sie mit Grund hinterhältig und heimtückisch. Fast immer machen sich die Attentäter die Arglosigkeit der Angegriffenen zunutze, indem sie in eine auf Gewalt unvorbereitete Gesellschaft einbrechen. Sie lösen die Grenzziehungen zwischen Krieg und Frieden, Kombattanten und Zivilisten, Front und Etappe auf und beziehen nicht zuletzt daraus ihre Operationsfähigkeit. Wenn sie deswegen nicht völliger Verachtung verfallen, dann darum, weil sie dies mit dem Opfer des eigenen Lebens bezahlen. Dieser tödliche Preis ist gleichsam die ethische „Restgröße“ solcher Selbstmordstrategien. Und an diesem ethischen Rest hängt mehr, als es auf den ersten Blick scheinen mag: Es ist die Reklamierung des Heroischen durch die heimtückische Tat, die unsere Selbstgewissheit so sehr erschüttert.

Die Durchschlagskraft der Selbstmordattentäter erwächst jedoch nicht allein aus ihrer Todesbereitschaft, sondern ebenso aus unserer Todesangst. Im Kampf heroischer Gesellschaften gegeneinander vermögen Selbstmordattentäter nur begrenzte Wirkung zu zeitigen: Sie bleiben reduziert auf den unmittelbaren physischen Effekt. Insofern Selbstmordattentate, was auch immer ihre politischen Ziele sein mögen, ein Angriff auf die Werte und Lebensweisen postheroischer Gesellschaften sind, können sie dadurch das Gesetz des Handels zumindest zeitweilig in die Hand bekommen. Eine langfristig angelegte Strategie der Terrorismusbekämpfung ist darauf angewiesen, dass in der eigenen Gesellschaft Verhaltensweisen kultiviert werden, die man als „heroische Indifferenz“ bezeichnen könnte.

Diese Entschlossenheit und Gelassenheit zu entwickeln, ist die eigentliche Herausforderung, der wir uns gewachsen zeigen müssen. Das wird nicht leicht sein, geht es hier doch um Einstellungen, die von den Entwicklungstrends unserer Gesellschaften eher ausgewaschen als gefördert werden. Unsere Gesellschaften werden von der Strategie der Selbstmordattentate genau dort getroffen, wo unsere Fähigkeiten am geringsten sind: in der Entwicklung langfristiger Strategien und dem Aushalten von Gewalt, was die Voraussetzung dafür ist, dass diese langfristigen Strategien auch umgesetzt werden können. Entschlossenheit ohne Gelassenheit führt in die Falle, in die die israelische Politik geraten ist. Gelassenheit ohne Entschlossenheit dagegen wird von den Terroristen als Schwäche wahrgenommen, die sie als Indiz ihres möglichen Sieges deuten.

Selbstmordattentate sind obendrein immer auch ein Einbruch der Vormoderne in die Postmoderne, und postmoderne Gesellschaften laufen Gefahr, diese Auseinandersetzung zu verlieren, wenn sie nicht auf mentale Dispositionen zurückgreifen können, die ihnen nicht unbedingt eigen sind. Sind sie mit Gewalt in kleinerem wie großem Maßstab konfrontiert, so bedienen sie sich in der Regel finanzieller Mittel, um die Gewaltanwender ruhig zu stellen: Von Resozialisierungsmaßnahmen bis zur Pazifizierung von Warlords reagieren unsere Gesellschaften mit einer Politik des Gewaltabkaufs. Selbstmordattentate sind eine dezidierte Verweigerung gegenüber dem Angebot des Gewaltabkaufs. Das Selbstmordattentat ist immer auch eine verächtliche Abkehr von den Versprechen und Suggestionen einer auf Tausch und Kauf beruhenden Gesellschaft.

Wo das Leben nichts zählt, ist Geld kein Argument. Das vor allem ist es, was uns erschüttert, wenn wir um die Opfer der immer zahlreicher werdenden Anschläge trauern: Die Selbstmordanschläge sind zunächst Nachweise unserer Ohnmacht – jedenfalls solange wir ihnen mit den Mitteln beikommen wollen, die unserem Selbstverständnis entsprechen. In gewisser Hinsicht tritt uns in der Figur des Selbstmordattentäters die Vergangenheit unserer eigenen Gesellschaften gegenüber: eine Vergangenheit, die wir froh sind, hinter uns gelassen zu haben, und deren vermeintlich endgültige Verabschiedung für uns der Inbegriff des Fortschritts ist: des sozialen und politischen, vor allem aber auch des moralischen Fortschritts. Das ist die zweite Demütigung, die uns die Selbstmordattentäter beibringen: dass wir ihnen mit den Mitteln unserer Fortschrittlichkeit nicht beizukommen vermögen, sondern zu Anleihen bei jenen Einstellungen gezwungen sind, die wir hinter uns gelassen haben wollten.

Bislang haben die westlichen Gesellschaften auf diese doppelte Herausforderung überwiegend mit Verdrängung und Wunschdenken reagiert. Solches Wunschdenken hat vielerlei Gestalt: Eine davon ist, Selbstmordattentate als ein zeitlich begrenztes Phänomen zu begreifen, das nach einiger Zeit von selbst verschwinden werde. Eine andere ist, sie als eine spezifische Folge des israelisch-palästinensischen Konflikts anzusehen, die mit dessen Beilegung ebenfalls überwunden sein werde. Eine weitere schließlich ist, darauf zu vertrauen, dass eine Intensivierung des Dialogs der Kulturen zum Verschwinden der Selbstmordattentate führen werde. Aber es ist reichlich naiv zu meinen, eine Strategie, mit der sich die uneinholbare technologische wie ökonomische Überlegenheit der westlichen Gesellschaften schlagartig in deren Schwäche verwandeln lässt, könne man aus der Welt schaffen, indem man einmal in Ruhe darüber redet.

Selbstmordattentate sind die wohl größte Herausforderung der westlichen Gesellschaften seit dem Ende der nuklearen Bedrohung im Ost-West-Konflikt. Wir werden nicht darum herumkommen, uns dieser Herausforderung mit langem Atem zu stellen. Man wird der Strategie der Selbstmordattentate nur dann effektiv begegnen können, wenn deren Planer spüren, dass sie sich an einer Mischung aus politisch-militärischer Entschlossenheit und mentaler Gelassenheit bei den Angegriffenen die Zähne ausbeißen. Dann nämlich erzielen sie mit ihren Anschlägen nur noch die Wirkung, die deren unmittelbaren physischen Auswirkungen entspricht, und eine längerfristige Gegenstrategie kann schrittweise umgesetzt werden. Der Kampf mit dem Terrorismus ist als Erstes eine Auseinandersetzung um die zur Verfügung stehende Zeit. Terroristen verschaffen sich diese Zeit durch ihre Fähigkeit, sich in der Bevölkerung zu verbergen, die es ihnen ermöglicht zuzuschlagen, wann und wo sie wollen. Postheroische Gesellschaften müssen sich diese Zeit durch einen neuen heroischen Gleichmut verschaffen.

Der Autor lehrt Politikwissenschaft an der Berliner Humboldt-Universität und hat nach dem Bestseller „Die neuen Kriege“ (2002) die Studie „Der neue Golfkrieg“ verfasst ( Rowohlt Verlag).

Herfried Münkler

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