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Leise Trauer, brüllender Schmerz. Der israelische Schriftsteller David Grossman.

© Alejandro Garcia/dpa

Der neue Roman von David Grossmann: Die gottverdammte Seele

Zwischen Komik und Entsetzen: David Grossman verquickt in "Kommt ein Pferd in eine Bar" die Lebensgeschichten zweier Freunde.

Die meisten Gefühle sind ziemlich kompliziert. Kaum erhascht man etwas unter der Oberfläche, ist es schon wieder verschwunden, vielleicht für immer, vielleicht arbeitet es aber auch weiter vor sich hin, dröselt sich auf, verbindet sich neu und kommt als etwas anderes wieder zum Vorschein. Selbst scheinbar eindeutige Gefühle wie Liebe und Zorn sind von anderen Regungen umgeben, oft sitzen sie in den Mundwinkeln oder im Blick oder grummeln in den Eingeweiden vor sich hin. In seinem neuen Roman „Kommt ein Pferd in die Bar“ erzählt David Grossman eine ebenso einfache wie unfassbare Geschichte, elementar, existenziell, knapp orchestriert, mit minimalem Setting, krachendem Witz und doch so abgründig, dass es einen schaudert. Er spielt mit unseren Gefühlen, krempelt uns an Leib und Seele um. Dabei ist das Ganze so unterhaltsam wie ein Abend im Varieté.

Zwei Jugendfreunde treffen nach mehr als vierzig Jahren zum ersten Mal wieder aufeinander. Der Leser ist praktisch live mit dabei, wenn ihre Geschichte entsteht, in all ihrer Vielschichtigkeit und Unergründlichkeit. Kaum zwei Stunden umfasst die Erzählzeit des Romans – so lange nämlich, wie der Auftritt des Stand-up-Comedian Dov Grinstein, genannt Dovele, in einem etwas schäbigen Etablissement in der israelischen Küstenstadt Netanja dauert.

Es ist der 20. August 2014, sein 57. Geburtstag. Zwei Wochen davor hat er den Freund angerufen und ihn gebeten, an diesem Abend im Publikum zu sein. Und Avischai Lasar ist gekommen, zögerlich zwar, weil er mit Komik eigentlich nichts am Hut hat und auch nicht weiß, was der jahrelang seinem Gedächtnis entschwundene Freund wirklich von ihm will. Doch Zeit hat er genug. Seine Frau ist vor drei Jahren gestorben, als Richter wurde er vorzeitig in Pension geschickt. Mit dem diffusen Gefühl, etwas Beschämendes verdrängt zu haben, sitzt er im Publikum. Da fliegt sein Freund, „ein mickriges, bebrilltes Männlein“ auf die Bühne, als hätte ihn jemand hinausgekickt.

Nach rund 20 Seiten gibt sich erstmals der Erzähler zu erkennen

Während Dovele auf offener Bühne seinen Hintern in die Luft streckt, das Publikum beschimpft und die ersten Zoten ablässt, aber auch schon Details seiner Lebensgeschichte preisgibt (wie den Sinai-Feldzug als Zeugungsdatum), wissen wir noch nichts von seinem Freund. David Grossman stößt uns ebenso in die Geschichte wie seinen Helden auf die Bühne. Als sich der Erzähler nach rund 20 Seiten zum ersten Mal zu erkennen gibt, ist das fast wie eine kleine Atempause. Die besonnene Innenschau des pensionierten Richters ist das Gegenteil von Doveles überdrehter Performance. Und doch sind beide nicht nur durch die Romankonstruktion miteinander verquickt. Ihre Lebenswege haben sich auf eine Weise gekreuzt, dass sie einander in der „gottverdammten Seele“ sitzen.

Zweimal pro Woche hatten die beiden beim selben schwermütigen Lehrer Nachhilfe. Danach gingen sie gemeinsam zum Bus, jeder fuhr in seinen Stadtteil Jerusalems. Mit seinen dunklen Locken, den blauen Augen und der quirligen Art hielt Avischai Dov für ein verhätscheltes und heiteres Kind. Doch dessen Jugend war ebenso von der Shoah überschattet wie seine eigene. Und dennoch konnte er ihm beibringen, wie wohltuend es ist, wenn der andere intensiv zuhört und die richtigen Fragen stellt.

Zufällig landen die beiden im gleichen paramilitärischen Jugendcamp, ohne voneinander zu wissen. Als Avischai das Zelt betritt, in dem er untergebracht ist, sieht er zwei kräftige Typen einen Seesack hin und her werfen. Kreischende Schreie sind daraus zu hören. Irgendwann fällt der Sack mit einem lauten Knall auf den Boden. Dov schlüpft heraus. Die beiden starren sich an. Avischai wendet sich ab.

Durch Fragen und Zuhören öffnet man einen Menschen wie mit einem Dietrich

Vier Tage sprechen sie kein Wort miteinander. Avischai erlebt seine erste Liebe und erobert die Angebetete, indem er anwendet, was er von Dov gelernt hat: durch Fragen und Zuhören einen Menschen wie mit einem „Dietrich“ öffnen. So ist er mit ganz anderen Dingen beschäftigt, als der Freund eine schreckliche Nachricht erhält. Dov muss sofort zurück nach Jerusalem zu einer Beerdigung. Und Avischai wendet sich ein zweites Mal von ihm ab, während sich unter dem Freund der Boden auftut.

Stundenlang sitzt Dov mit einem fremden Fahrer im Auto und weiß nicht, wer gestorben ist. Keiner hat es ihm gesagt, weil jeder dachte, er wüsste es schon. Er fürchtet sich vor der Wahrheit. Sie wird auf jeden Fall grausam sein. Denn Vater und Mutter sind die einzigen Überlebenden seiner Familie. Während der Fahrer unablässig Witze erzählt, um ihn abzulenken, benötigt er seine ganze Einbildungskraft, um sich die beiden vorzustellen, abwechselnd und möglichst gerecht. Seine Panik wächst von Stunde zu Stunde. Denn er glaubt, es hänge von ihm ab, wen es getroffen haben wird. „Selektion“ nennt er, was er in Gedanken betreibt.

Avischais Blicke erkunden die Mimik und Gestik des Freundes, lesen ihm jede Regung vom Gesicht ab

Dov Grinstein erzählt nur einen Teil der Geschichte auf offener Bühne. Und er erzählt sie nicht am Stück. Er baut sie in sein Comedy-Programm ein, dehnt und streckt sie, während er das Publikum mit makabren Witzen bei der Stange hält. Die Leute sind schließlich gekommen, um ihren Spaß zu haben. Avischai hört nicht nur zu, um später alles aufzuschreiben. Er beobachtet auch, was sich zwischen Dovele und dem Publikum abspielt. Seine Blicke erkunden die Mimik und Gestik des Freundes und lesen ihm jede Regung vom Gesicht ab: die Genugtuung, wenn eine Pointe zündet, die Angst, wenn er das Publikum zu verlieren meint, den Triumph, wenn er es wieder einfängt, und die schiere Not im Angesicht von Alter, Krankheit, Tod.

Immer mehr Leute verlassen den Raum. Am Ende bleiben nur die beiden Freunde und eine sehr kleine Frau übrig. Sie ist der dritte Punkt des „dreifach gezwirnten Fadens“, der die Geschichte zusammenhält. Als Kind war sie für kurze Zeit Doveles Nachbarin. Sie ist eigens gekommen, um zu bezeugen, was für ein guter Mensch er gewesen ist, damals, als er oft auf den Händen lief, um Heiterkeit auszustrahlen.

Wie kann man das Leid eines anderen anerkennen, wie durch einen Blick zu verstehen geben, dass man es sieht? Das ist die große Frage dieses Romans, dem die Geschichte Israels ebenso in den Knochen sitzt wie David Grossmans Lebenserfahrung. In zahlreichen Interviews hat er beschrieben, wie schwierig es war, mit dem Tod seines Sohnes Uri zurechtzukommen. Er fiel am 12. August 2006, in den letzten Tagen des Libanonkriegs, während der Vater noch an einem Roman schrieb, der mit magischen Mitteln seinen Tod verhindern sollte: „Eine Frau flieht vor einer Nachricht“. Weil selbst Schriftstellerkollegen in ihren Kondolenzbriefen ihre Sprachlosigkeit bekundeten und also mit einem Klischee reagierten, wollte Grossman eine eigene Sprache für die Trauer finden. So entstand „Aus der Zeit fallen“, eine Art kollektives Requiem, dessen beschwörende Sprache eine Sphäre erschafft, in der die Toten in der Nähe der Trauernden bleiben.

„Kommt ein Pferd in die Bar“, von Anne Birkenhauer in ein bewegliches Deutsch übersetzt, versteckt die Traurigkeit hinter starken Effekten und zaubert sie dann mit einem Ruck hervor. „Habt ihr das Bild?“, ruft Dov von der Bühne herab, und schon entsteht vor dem inneren Auge des Lesers, was immer David Grossman dort haben will. Und der Leser sieht auch, was das Publikum nicht mitbekommt. Denn Dov plaudert die Rolle des Freundes nicht aus. Nur in Avischais Innenschau entsteht das Bild, wie er den Freund gleich zweimal in größter Not ohne Beistand ließ.

David Grossmans neuer Roman erzählt von Krankheit und Tod, von Verrat und Vergebung. Er zwingt uns, ganz genau hinzusehen. Alle Klischees zerstieben im Wechsel von Entsetzen und Komik. Am Ende ist man nicht nur um ein paar Witze reicher, sondern auch um die Erkenntnis, wie gut man sich ablenken lässt. Wie Licht und Schatten sind die Lebensgeschichten der beiden Freunde aufeinander bezogen. Avischais Trauer um seine an Krebs gestorbene Frau ist die leise Variante von Dovs brüllendem Schmerz. In der Trickkiste dieses grandiosen Romans stecken zwei Geschichten in einer.

David Grossman: Kommt ein Pferd in die Bar. Roman. Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer. Carl Hanser Verlag, München 2016. 252 Seiten, 19,90 €.

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