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Kultur: Der Rand vom Band

Vor neunzig Jahren hat Duchamp den Flaschentrockner ins Museum geholt und damit die Schwellen des Kunstolymps ein für alle Mal eingerissen. Aber wer weiß noch, dass wir diese Inkunabel den Schriften eines französischen Mathematikers zu verdanken haben?

Vor neunzig Jahren hat Duchamp den Flaschentrockner ins Museum geholt und damit die Schwellen des Kunstolymps ein für alle Mal eingerissen. Aber wer weiß noch, dass wir diese Inkunabel den Schriften eines französischen Mathematikers zu verdanken haben? Die mathematischen Überlegungen seines Zeitgenossen Henri Poincaré wurden für Duchamp zur Initialzündung. Die Ideen von der vierten Dimension und von der Ausdehnung der Welt in einem Hyperraum, diese Vorstellung wurde für Duchamp die Idee von der künstlerische Darstellung per se. Seitdem ist Kunst eine Frage der Perspektive.

Eine schöne Hommage an Duchamp findet sich derzeit in der Ausstellung „Anonym, Autor unbekannt“ in der Galerie Stella A (Gipsstraße 4, bis 25. Februar). Ein cineastisches Petit Four ist die kleine DVD-Edition unter dem Titel „Kino Marcel“. Sie zeigt als feine Episodensammlung Filmausschnitte, in denen Duchamps Flaschentrockner tragende oder Nebenrollen übernimmt. Darüber hinaus bietet die Ausstellung anonyme Kunst, mit leichter Hand arrangiert, herzlich und witzig auf den Punkt gebracht. In bescheidener Koketterie treten da altväterliche Botaniktafeln in Erscheinung. Kleine „Ready Mades“ aus Russland, eigentlich gedacht für Blumen- und Gemüsebeete. Fast treibt’s einem Tränen vor Rührung oder vor Lachen in die Augen: hier eine Tuschezeichnung vom japanischen Glücksgott Fukorokuju (120 Euro), da ein pointillistisches Frühstücksbrett aus Resopal (Ed. 10, je 10 Euro). Hier ein schwitternder Metallkegel, da eine Sammlung prä-lomografischer Fotografien mit Zackenrand aus den 50er Jahren. Am Ende lässt sich doch noch ein Name finden. Der Künstler der Duchamp-Hommage steht auf der DVD: Es ist Pierre Granoux .

Noch heute treibt es Künstler zu Versuche, physikalische Abstrakta zu visualisieren. Dass sich beispielsweise Sterne beim Entfernen eher rotleuchtend und beim Annähern eher blau leuchtend zeigen, dieses Phänomen gibt Edgar Archeneaux (geb. 1972) zu denken. Seine aktuelle Ausstellung „The Agitation of Expansion“ in der Galerie Kamm (Rosa-Luxemburg-Straße 43/45, bis 3. März) beschäftigt sich mit optischen Shiftings, mit dimensionalen Verschiebungen zwischen innen und außen, von Groß und Klein. Die raumfüllende Installation, fotografische Serien und den neuen Film (Preise zwischen 4000 und 20 000 Euro) widmet er seinem Vorbild und Freund und Künstlerkollegen Morgan Fisher, der in seinen Arbeiten ebenfalls Grenzen auslotete. Farbige Spiegelpapiere werfen blau und rot schimmernde Reflexe gegen die Galeriewand. Fishers altes Auto wird zum Hauptdarsteller des Filmes. Ein Vehikel, das in der Wüste mit voller Geschwindigkeit durch eine Spiegelwand fährt. Voll durch den Betrachter. Ein anachronistisches Spiegelphänomen aus der vierten Dimension? Die Physiker von heute sind längst schon weiter. Sie erobern gerade die fünfte, die sechste. Das sehen wir natürlich nicht. Zum Glück.

Thea Herold

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