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Kultur: Der Raum wird zum Ton

Sasha Waltz inszeniert ihr neues Stück in Graz. Rebecca Saunders hat die Musik geschrieben. Ein Porträt

Rebecca Saunders weiß die Stille zu schätzen. Nicht nur, weil sie zwei kleine Kinder hat. Die englische Komponistin räumt in ihren Werken den akustischen Leerstellen dasselbe Recht ein wie den Tönen. „Es ist so wie bei der Dunkelheit: Die wird auch erst durch Licht sichtbar.“ Darum war es ein ziemlicher Schock für sie, als ihre jüngste Arbeit vom Publikum fast zertrampelt wurde: Im Auftrag der Berliner Schaubühne hat Saunders die Musik zum aktuellen Projekt von Sasha Waltz geschrieben. Hinter dem Titel „Insideout“ verbirgt sich eine „choreografische Installation“, bei der ein interdisziplinärer Dialog zwischen Architektur, Bildender Kunst, Musik, Tanz, Video und Wissenschaft entstehen soll. Voraufführungen fanden in Berlin statt, die Premiere ist heute in der europäischen Kulturhauptstadt Graz im Rahmen des Festivals „Steirischer Herbst“. Ab 9. Oktober läuft die Produktion in der Berliner Schaubühne.

Es ist wieder ein ambitioniertes Projekt, das Sasha Waltz sich mit ihrem Dramaturgen Jochen Sandig und dem Grazer Kulturwissenschaftler Karl Stocker ausgedacht hat. Ihre Tänzer, die aus Australien und Kanada, Japan, Italien, Israel, Korea und Litauen, Neuseeland, Portugal und Spanien stammen, wurden in Interviews nach ihrem Werdegang befragt. Die Lebensgeschichten konfrontierte man mit Thesen von Jean Baudrillard bis Judith Butler – und erhoffte sich eine Antwort auf die Frage, wie sich heutzutage postmoderne Identitäten formen.

Rebecca Saunders allerdings konnte ihre Partitur autonom konzipieren, weil die Ebenen der Aufführung sich nicht unbedingt aufeinander beziehen. Daher auch ihr Schreck, als das Publikum sich in der Schaubühne so geräuschvoll über die Treppen, Rampen und Galerien von Thomas Schenks abstrahierter Stadtlandschaft bewegte. Die fein ausbalancierten Klangmischungen, die ihre Partitur kennzeichnen, bekamen durch die Knack- und Knirschgeräusche der Bühnenkonstruktion einen unerwünschten Kontrapunkt, viele Details gingen im Gewusel unter.

„Wir haben nach dem ersten Abend eine Menge umgestellt“, erzählt sie im Interview kurz vor der Abreise nach Graz. „Das ganze Projekt ist ja eine Forschungsreise.“ Das passt zu ihrer Arbeitsweise: Rebecca Saunders arbeitet sich gerne von der Mitte zu den Rändern vor. Wenn sie ein Stück beginnt, sucht sie zunächst nach den passenden Instrumenten. Hat sie die zusammen, versucht sie, den klanglichen Kern eines Akkordeons, eines Cellos oder eine E-Gitarre zu definieren, um sich dann beim Eingrenzen ihrer Tonräume wieder davon zu entfernen. So entstanden auch für die Schaubühne mehrere Klangflächen, die sich nach einem festgelegten Muster überlagern.

Die zierliche Britin vergleicht ihren Kompositionsstil gerne mit der Arbeitsweise einer Bildhauerin: „Es ist das Material selber, das vom Künstler verlangt, auf eine ganz bestimmte Art und Weise geformt zu werden.“ Mit dieser Ästhetik, die die Sinnlichkeit von Musik in den Vordergrund stellt, hat die 1967 geborene Londonerin, die seit 1997 in Berlin lebt, großen Erfolg. Als Geigerin weiß sie, was spielerisch ohne Technikzusätze möglich ist, als Doktorin der Komposition der Universität Edinburgh und Schülerin von Wolfgang Rihm hat sie den intellektuellen Background für ihr Tun. Dass sie vom Komponieren leben kann, machten zunächst Stipendien und Preise möglich. Inzwischen hat sie genug Werkaufträge, um sich neben ihrer Friedrichshainer Wohnung noch eine extra Studierstube leisten zu können, in der sie mit bewundernswerter Disziplin jeden Tag sechs Stunden an ihren Stücken arbeitet.

Am Tag nach der Berlin-Premiere von „Insideout“ führt das Ensemble Intercontemporain übrigens in Paris Rebecca Saunders „Chroma“ auf, eine Klanglandschaft für im Raum verteilte Instrumentalisten, die dem Schaubühnenprojekt geistig nahe steht, und ihre Uraufführung im Juni 2002 in der Turbinenhalle der Londoner „Tate Modern“ erlebte. „Ein großartiger Raum mit eigenwilliger, faszinierender Akustik“, schwärmt Saunders, „lebendig wie ein Tier.“ In Berlin wird sie es etwas schwerer haben.

Infos zu „insideout“ unter www.graz2003.at und www.schaubuehne.de

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