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Kultur: Der Rest ist Schweigen

Ein

von Richard Chaim Schneider

Als der damalige Bundespräsident Roman Herzog ankündigte, der 27. Januar solle der nationale HolocaustGedenktag werden, ahnte er wohl nicht, dass das Gedenken gleich beim ersten Mal verschoben würde. Denn der 27. Januar 1996 fiel auf einen Samstag, und da tagt der Deutsche Bundestag nicht. Die Gedenkstunde an den Judenmord wurde auf einen anderen Tag gelegt: Offenbar betraf sie nicht die gesamte Bevölkerung, sondern nur deren Abgeordnete. Nichts, absolut nichts erinnert die deutsche Bevölkerung im Alltag daran, dass seit nunmehr neun Jahren der 27.Januar ein „Jom Hashoah“ ist, wie der Gedenktag an die Shoah in Israel heißt. Jom Hashoah ist dort allerdings nicht am 27. Januar, sondern im Mai, kurz vor „Jom Haatzmaut“, dem Unabhängigkeitstag des Staates Israel. Vernichtung und Wiederauferstehung des jüdischen Volkes, so Auffassung der Gründerväter, lägen nahe beieinander. Jom Hashoah in Israel: ein beeindruckendes Ritual. Am späten Vormittag ertönen Sirenen, zwei Minuten hält das Leben inne. Die Menschen verlassen ihre Autos und gedenken stehend und schweigend der sechs Millionen jüdischen Opfer. Wie sich das anfühlt, können die Deutschen seit den internationalen Schweigeminuten der letzten Jahre nachvollziehen: Im Gedenken an die Opfer des 11. September und kürzlich an die der Flutkatastrophe kam ebenfalls für einen Augenblick das öffentliche Leben zum Stillstand. Das erste Mal hatten die Bundesdeutschen übrigens 1950 mit einer Schweigeminute einer Katastrophe gedacht. Damals wollte man um 12 Uhr mittags an eine „schreiende Ungerechtigkeit“ erinnern, wie man das damals nannte: Man gedachte der deutschen Soldaten in russischer Kriegsgefangenschaft.

Die Schweigeminute 1950 war also eher eine Art stummer Protest. Beide Male, 1950 und 2005, ging es um die eigenen Opfer, auch wenn man bei den Opfern des Tsunamis gleichzeitig der übrigen Toten gedachte. Das ist normal: Das eigene Leid ist stets näher als das des Fremden. Doch die jüngste Erschütterungs- und Pietätsaktion wirft im Gedenkjahr 2005 Fragen auf. Die Debatten um die richtige künstlerische Darstellung eines Holocaust-Mahnmals klingen uns noch in den Ohren. Warum hat sich Deutschland bis heute nie zu einer Schweigeminute für die sechs Millionen Juden und alle anderen Opfer der NS-Zeit durchringen können?

Es wäre eine eindrucksvolle Geste, die in die deutsche Gesellschaft hinein ebenso wie hinaus in die Welt wirken könnte. Warum wurde sie bisher nicht angeregt? Fürchtet man vielleicht, dass sich nicht alle Deutschen beteiligen werden? Dass man dem Land zu viel zumuten würde, wenn seine Bevölkerung einmal im Jahr die Menschen an das singuläre Menschheitsverbrechen denkt? Vielleicht wird Bundespräsident Köhler uns am 8.Mai ja überraschen und für den 27. Januar 2006 eine Schweigeminute im ganzen Land ankündigen. Das wäre doch was im 60. Jahr des Gedenkens!

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