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Kultur: Der Ritt über den Wannsee

Von Ingeborg Bachmann bis Judith Hermann: Das Literarische Colloquium Berlin wird 40 Jahre alt

Von Gregor Dotzauer

Groß muss die Zeit gewesen sein, in jenen frühen Jahren nach dem Mauerbau. Die Inselstadt war ein achter Kontinent, der Wannsee ein Ozean und die Villa am Sandwerder 5, die das Literarische Colloquium Berlin heute noch beherbergt, ein Schloss mit Ballsälen, Geheimgängen und Schatzkisten im Keller. Abends, wenn Walter Höllerer, der Fürst dieses Reichs, seiner Germanistikprofessur an der Technischen Universität überdrüssig, zu den Veranstaltungen vorfuhr, wird kein Haus ringsherum im Licht des versammelten Geistes heller gestrahlt haben. Keine Gesellschaft wird bunter gewesen sein als das Gemenge von internationaler Dichterprominenz, Berliner Junggenies, „Gruppe 47“-Eleven und poesieverliebten Hofnarren wie Günter Bruno Fuchs.

Überhaupt wird keine Fantasie ausreichen, sich die Vergangenheit des Ortes auszumalen, weil schon die Gegenwart ein Traum ist: an einem sonnigen Tag über den Hof des Anwesens zu knirschen, die Stufen zum Eingang empor zu steigen, einige Sekunden im Dämmer des holzgetäfelten Foyers zu verweilen und dann in den Wintergarten hinauszutreten, von dem aus der Rasen in mehreren Wellen die Haveldüne zum steinernen Aussichtsrondell mit Blick auf das Wasser hinabrollt.

Und groß war die Zeit. Sie war es schon, bevor Höllerer mit Hilfe der Ford Foundation das LCB im Mai 1963 offiziell gründete und noch zu Lesungen mit Ingeborg Bachmann, Ilse Aichinger oder Wolfgang Hildesheimer in den TU-Hörsaal 3010 lud. Wie fern sie aber zugleich ist, davon macht man sich keine Vorstellung, solange man nur ehrfürchtig auf die Namen starrt, die sich mit ihr verbinden, und die Texthinterlassenschaften ein lebendiges Erbe sind.

Wer einen Blick auf alte Filme wagt, die die wunderbaren Bilder der Hausfotografin (und Höllerer-Ehefrau) Renate von Mangoldt in Bewegung bringen, wer hört, wie die Autoren eine Stimme bekommen, der merkt schnell, dass die vierzig Jahre LCB, die heute mit einem Festakt begangen werden, in mehrere Zeitschichten mit Brüchen, Überlagerungen und Verwerfungen zerfallen. Dieser studienrätische, deklamatorische Ton, der viele Gespräche auflädt und auch in Höllerers süddeutsches Kolorit hineinfährt, dieses bedeutungsschwangere Pausieren, mit dem Ingeborg Bachmann ihren Gedichten höchstkulturelle Tiefe verleiht: Das hat schon erschreckende Momente. Umgekehrt werden womöglich Zeugen dieser Epoche, die selbst ein mythisches Bild entwickelt haben, darüber klagen, dass im LCB heute Leute auftreten, die früher nicht einmal als Stallbursche oder Küchenmagd beschäftigt worden wären.

Neben den Granden der internationalen und nationalen Literatur sitzen auch immer wieder mal junge Menschen auf dem Podium, die arg geblümte Mädchenprosa schreiben oder extra harte Jungs mimen und ganz in der Markenwarenwelt zu Hause sind. Sie sitzen dort, weil sie auf eine Weise zum neuen deutschen Literaturbetrieb gehören, die sich nicht unter Hinweis auf die Literaturgeschichtsschreibung im nächsten Jahrhundert vom Tisch wischen lässt, sondern hier und jetzt einen kritischen Reflex verdient. Auch dass jüngst – in Zusammenarbeit mit der Humboldt-Universität – eine Reihe mit dem Titel „Literatur und Marketing“ ins Programm fand, ist ein Zeichen für die Offenheit (und den Selbstvergewisserungsbedarf) einer Institution, die sich schon vor der Wende einmal neu erfinden musste.

Anfang der Achtzigerjahre wuchs nämlich im Senat die Unzufriedenheit mit dem luxurierenden, viel zu sehr multimedial orientierten LCB. So fragte der damalige Kultursenator Kewenig 1982, „ob hier Input und Output in einem vernünftigen Maße zueinander stehen“. Pläne für ein literarisches Zentrum in der City – das 1986 gegründete Literaturhaus in der Fasanenstraße – wurden geschmiedet, und die Drohung, das 1884/85 gebaute Haus am Wannsee zu verkaufen, erging zum ersten Mal. Das Privileg der prunkvollen Immobilie ist seither auch die größte Last des LCB. Der zweite Einbruch kam mit dem Mauerfall. Es dauerte nicht lang, bis sich die beiden Ostberliner Einrichtungen, das Literaturforum im Brechthaus und die heute auf dem Gelände der Kulturbrauerei residierende Literaturwerkstatt als Konkurrenz erwiesen. 1992 gab es einen neuerlichen Versuch, das LCB vom Wannsee zu vertreiben. Spätestens mit dem Einfrieren der städtischen Kultursubventionen im Jahr 1995 steht die materielle Grundlage aller Berliner Literatureinrichtungen auf dem Spiel, wobei das Literaturforum künftig als Institution des Bundes geführt werden soll: ein Glück, das dem längst national operierenden und Programme in aller Welt ausrichtenden LCB bisher versagt blieb.

Im Lauf der letzten Jahre versucht sich das LCB denn auch weniger als Veranstalter zu profilieren denn als Dienstleister hinter den Kulissen. Wer immer zwischen dem Goethe-Institut und dem Deutschen Literaturfonds Hilfe braucht, soll sich ans LCB wenden. Seit 1999 findet alljährlich im Sommer die Berliner Autorenwerkstatt Prosa statt, in der auch die ersten Bücher von Judith Hermann und Zsuzsa Bánk ihren Schliff bekommen haben. Daneben soll es natürlich wie zu Höllerers Zeiten ein Ort öffentlicher Auseinandersetzung bleiben und als Wohnort und Treffpunkt für Stipendiaten dienen. Dass das LCB heute eine funktionierende Institution ist, liegt nicht zuletzt daran, dass seit 1986, nach einer Interimsregentschaft von Wolfgang Trautwein, Ulrich Janetzki die Geschäfte führt, ein durchaus nicht immer feinsinnig aufgelegter, Motorrad fahrender Manager, der in vielem das Gegenteil des dichtenden, überall im Betrieb die Strippen ziehenden Professors Höllerer ist. Mindestens so viel verdankt das LCB aber seinen Programmmachern Jürgen Jacob Becker, der für die Übersetzerförderung (und die zugehörige Werkstatt) zuständig ist, Dieter Stolz als Verantwortlichem für neue deutsche Literatur sowie Thomas Geiger als Redakteur der von Höllerer gegründeten Zeitschrift „Sprache im technischen Zeitalter“ – eine Verneigung vor allen übrigen Hausgeistern eingeschlossen.

Was wird aus dem LCB, darum sollte einem nicht bange sein: Es wird sich auch noch ein drittes Mal neu erfinden. Wie es war, das kann man auch in einem Gedicht von Jürgen Becker von 1971 lesen: „im kühlen Literarischen Salon / der Kaiserzeit-Villa am Wannsee / sitzen Maier/Bisinger; drüber zwischen Filmrollen / hockt Ramsbott auf seinem grünen Sessel, / träumt Filme, / und es ist still; nur / Ulla Ludwig telefoniert jederzeit und im Treppenhaus / steht ein Kater, alt – / alte Zeiten, als es anfing, / Cuba-Krise und die Stille in der Luft / machte uns alle nervös; / was passierte denn, / wenn was passiert, / ,in dieser windstillen Mitte‘ –/ Übungsflüge. Übungsschüsse.“ Heute knallt erst mal der Korken einer Sektflasche.

Eine kleine bebilderte Geschichte des LCB und alle aktuellen Veranstaltungen finden sich unter: www.lcb.de .

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