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Schriftsteller Don Winslow, 61.

© picture alliance / dpa

Der Roman "Das Kartell" von Don Winslow: Tage der Bösen

Mit seinem ersten Roman über den Drogenkrieg in Mexiko wurde er weltberühmt. In „Das Kartell“ setzt Don Winslow den Kampf gegen die Drogen fort

Don Winslows „Tage der Toten“ ist einer der wichtigsten US-amerikanischen Kriminalromane der vergangenen Jahre. Der ehemalige CIA-Agent Arthur Keller wird darin in den siebziger Jahren für die Drogenhandelbekämpfungsbehörde der USA, die DEA, in die mexikanische Provinz Sinaloa geschickt. Er nimmt die Sache persönlich und macht Jagd auf Adán Barrera, einen aufstrebenden Drogenboss. Winslow benutzt den erbarmungslosen Zweikampf der beiden Männer, der sich über dreißig Jahre zieht, um die blutigen Schlachtfelder und Nebenschauplätze des amerikanischen Feldzugs gegen die Drogen abzuschreiten. Politische Intrigen, korrupte Geheimdienste und verdeckte Militäreinsätze, Rachegötter und gefallene Engel: „Tage der Toten“ ist ein Thriller in epischer Breite, der Don Winslow mit einem Schlag zum Superstar gemacht hat. Jetzt, fünf Jahre später, gibt es die Fortsetzung: „Das Kartell“. Und die Erwartungen sind hoch.

Es ist das Jahr 2004. Arthur Keller – ausgebrannt, desillusioniert, kaputt – hat sich in die Stille eines Klosters in der Wüste von New Mexico zurückgezogen. Er kümmert sich um Bienenstöcke und genießt das „einfache Leben im Frieden“, bis ihn die Vergangenheit einholt: Adán Barrera hat zwei Millionen Dollar auf Arthur Kellers Kopf ausgesetzt – und bereitet sich aus dem Gefängnis heraus auf seine Rückkehr ins Drogengeschäft vor. Keller entscheidet sich für die Flucht nach vorn. Er heuert erneut bei der DEA an und lässt sich als „Berater“ nach Mexiko schicken. Hier setzt Barrera sich nach einer spektakulären Flucht aus dem Gefängnis an die Spitze des Sinaloa-Kartells: „Die Ströme fließen. Kokain nordwärts, Geld südwärts.“

Keller bleibt in Mexiko und wartet auf seine Chance. 2007 erklärt der neu gewählte mexikanische Präsident Felipe Calderón den Drogenkartellen den Krieg. Die Gewalt in Mexiko eskaliert: Polizei und Armee erhöhen den Druck, gleichzeitig werden die Auseinandersetzungen zwischen den Kartellen immer brutaler. Art Keller stürzt sich – ähnlich wie in „Tage der Toten“ – zwischen die Fronten, und führt seinen ganz privaten Bürgerkrieg gegen Adán Barrera weiter: „Er ist das Böse. Ich weiß, das ist ein altmodisches Konzept, aber ich bin nun mal ein altmodischer Mensch.“

Exzessive Gewalt legt sich wie eine dünne Eisschicht über die Seiten

Es dauert ein bisschen, bis „Das Kartell“ die gleiche Wucht entwickelt wie „Tage der Toten“. Der Grund dafür ist eine ganze Schar von Nebenfiguren. Am Anfang hat man den Eindruck, dass Don Winslow sein rund 800 Seiten schweres Papiermonstrum möglicherweise etwas unsauber aus verschiedenen großen Handlungsfetzen zusammenklebt hat. Doch in der zweiten Hälfte fügen sich die einzelnen Episoden zu einem dichten Panorama. Fettgefressene Offiziere, korrupte Journalisten und bettelarme Tagelöhner, zynische Bürokraten und schießwütige Landadelige alter Schule, machtbesessene Schönheitsköniginnen und engagierte Ärztinnen, die bis zur Selbstaufgabe gegen den mörderischen Machismo kämpfen: Man würde „Das Kartell“ am liebsten als warmherzigen und mit Leidenschaft recherchierten Gesellschaftsroman über ein Land in Zeiten eines anhaltenden Drogenkrieges empfehlen – wenn da nicht Don Winslows Faszination für exzessive Gewalt wäre, die wie eine dünne Eisschicht die Seiten überzieht.

In „Tage der Toten“ kündigte sich das bereits an. Jeder, der diesen Roman gelesen hat, erinnert sich an die ersten Seiten, auf denen ein brutales Massaker beschrieben wird und an die grausame Szene an der Santa-Ysabel-Schlucht, als Adán Barrera zwei Kinder umbringen lässt, eines davon ein Baby.

Kaum auszuhalten, aber, das schien die Botschaft zu sein: letztlich nur ein mit den Mitteln des Genres geschärfter Blick auf das ganz reale Terrorregime der mexikanischen Drogenkartelle. Doch wer mehr von Don Winslow gelesen hat – und wenn man den Bestseller-Listen glauben schenken darf, sind das hierzulande eine ganze Menge Menschen! –, der weiß, dass dieser Autor zur Drastik neigt.

Der krasseste Fall ist vermutlich sein Militär-Thriller „Vergeltung“, im vergangenen Jahr in Deutschland erschienen, in dem er einen kleinen Trupp von Elitesoldaten auf einen islamistischen Terroristen hetzt und seitenlang den Einsatz der High-Tech-Waffen beschreibt, mit denen heute „kleine Kriege“ bestritten werden. „Vergeltung“ wirkt auf den ersten Blick reaktionär und pro-amerikanisch, doch im Grunde genommen hat dieser Roman keine „Botschaft“: Es ist einfach nur ein grausames, digital verpixeltes Schlachtgemälde aus dem anhaltenden Krieg gegen den Terror. „Das Kartell“ liegt genau auf dieser Linie. Die Gewalt ist einfach da und muss beschrieben werden. Auf Seite 211 zum Beispiel foltern Angehörige der Zetas, eines Kartells, das heute tatsächlich großen Einfluss in Mexiko hat, einen Mann, indem sie ihn mit Benzin übergießen und anzünden. „Du denkst, das tut weh? Das tut noch nicht weh“, sagt einer der Folterknechte und reißt ihm das T-Shirt von der verbrannten Haut.

Später muss ein Teenager für die Zetas im Rahmen einer Aufnahmeprüfung einem Mann den Kopf mit einem Sägemesser abtrennen, und auch Arthur Keller ist von der sich rasch ausbreitenden Gewaltepidemie befallen. Als die DEA und die mexikanische Regierung aus Gründen der „Effektivität“ ein Tötungsprogramm für Drogenbosse beschließen, richtet er persönlich eine der Zielpersonen auf offener Straße hin, während Don Winslow minutiös das schwere Gerät auflistet, mit dem die USA die mexikanischen Elitetruppen ausrüstet („M17-Hubschrauber“, „Panzer vom Typ M1A2-Abrahams“). Und genauso detailliert erzählt er, wie Keller einen mutmaßlichen Auftragskiller einer peinlichen Befragung unterzieht: Er zerschlägt ihm mit einem Gewehrkolben das linke Bein, packt dann seinen Fuß und presst ihn gegen die Brust, „bis sich das gebrochene Schienenbein durch das Fleisch spießt“.

Vielleicht der einzige Weg, wie man die Schlachtfelder der Gegenwart beschreiben kann

Schwer zu ertragen? Sicher. Vor allem, weil Don Winslow dann, wenn es richtig wehtut, auf literarische Distanzverfahren verzichtet. Er hält einfach drauf: auf Schusswunden, verbrannte Haut oder freigelegte Knochen, ohne den Leser durch atmosphärische Störungen, „suspense“-Effekte oder andere Erzähltricks darauf vorzubereiten. Don Winslow – und das ist der eigentliche Tabubruch – schreibt in diesen Momenten Literatur ohne Literatur. Vielleicht ist es der einzige Weg, wie man die Schlachtfelder der Gegenwart beschreiben kann: die Kapitulation der Kunst vor der Wirklichkeit.

Don Winslow selbst scheint den Weg, den er eingeschlagen hat, mit einer gewissen Melancholie zu beobachten. Zumindest gibt es in „Das Kartell“ neben der rohen, nackten Gewalt sehr zarte Passagen, in denen Arthur Keller und einige der anderen Figuren wahre Hymnen auf die großen mexikanischen Erzähler singen: auf Luis Urrea, Carlos Fuentes und Octavio Paz, auf Jorge Volpi oder auf den in Deutschland kaum bekannten Élmer Mendoza. Man kann während der Lektüre ganze Listen von Romanen erstellen, die man unbedingt noch lesen muss. Nur: An „Das Kartell“ kommt man trotzdem nicht vorbei.

Don Winslow: Das Kartell. Roman. Aus dem Amerikanischen von Chris Hirte. Droemer Verlag, München 2015. 831 Seiten, 16,99 €.

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