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Eigensinnig. George Eliot, um 1865 fotografisch auf Albuminpapier verewigt.

© R/D

Der Schriftstellerin George Eliot zum 200.: Die erste Frau ihres Jahrhunderts

Unter dem Pseudonym George Eliot schrieb sie bedeutende Werke wie „Middlemarch“. Mary Evans ging es um Anerkennung in einer von Männern dominierten Welt.

„Wer George Eliot aufmerksam liest, begreift, wie wenig er von ihr weiß“, schrieb Virginia Woolf in einem klugen Essay über die von ihr verehrte Verfasserin von Tausendseitern wie „Middlemarch“ oder „Daniel Deronda“. Beide Werke wurden erst 2015 in einer BBC-Umfrage zu den „100 bedeutendsten britischen Romanen“ gezählt.

„Middlemarch“, George Eliots bekanntester Roman, der jetzt zum 200. Geburtstag der viktorianischen Schriftstellerin sowohl in der überarbeiteten Übersetzung von Rainer Zerbst (dtv 2019, 1152 Seiten, 28 €) als auch in Neuübersetzung von Melanie Walz greifbar ist (Rowohlt 2019, 1264 Seiten, 45 €), landete dabei sogar auf Platz eins. Auch für Julian Barnes ist diese facettenreiche und farbenfrohe „Studie über das Leben in der Provinz“, so der Untertitel, „wahrscheinlich der bedeutendste englische Roman überhaupt“.

George Eliot war eine der erfolgreichsten Frauen ihrer Epoche – einer von technischen, wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Umbrüchen geprägten Epoche, in der aber der Erfolg von Frauen nicht vorgesehen war. Ihre Auflagen übertrafen die ihrer männlichen Kollegen.

Sie selbst galt, obwohl mit dem Journalisten und Goethe-Biografen Henry Lewes in wilder Ehe lebend und lange gesellschaftlich geächtet, als moralische Instanz. Zu ihren Sonntagsempfängen erschienen Kulturgrößen wie Iwan Turgenjew, Henry James, Charles Darwin, Richard und Cosima Wagner oder Edward Burne-Jones. Selbst Queen Victoria verschlang ihre Romane und erbat sich von ihr ein Autogramm.

Virginia Woolf nannte Eliot die erste Frau ihres Jahrhunderts

Virginia Woolf, die George Eliot an anderer Stelle als „die erste Frau ihres Jahrhunderts“ bezeichnete, setzt voraus, dass es sich bei der am 22. November 1819 in Nuneaton, Warwickshire als Tochter eines Gutsverwalters geborenen und 1880 in London gestorbenen Mary Anne Evans um eine Klassikerin der englischen Literatur handelt – tatsächlich tat Woolf einiges dafür, dass sie das auch im 20. Jahrhundert wieder wurde.

Hier in Deutschland ist Mary Evans, die, als Kind ihrer Zeit – dabei der französischen Kollegin George Sand nacheifernd –, zu dem männlichen Pseudonym George Eliot griff, weit weniger bekannt.

Sie wird auch weit weniger gelesen als ihre Zeitgenossen Dickens, Thackeray oder die Brontë-Schwestern. Letztere publizierten ebenfalls unter männlichen Pseudonymen: Jane Austen veröffentlichte ihre Bücher noch anonym oder mit dem Vermerk „by a lady“.

Wir wissen wenig über die Autorin

Tatsächlich wissen wir sehr wenig über diese Autorin und Übersetzerin religionskritischer Schriften von David Strauß und Ludwig Feuerbach. Doch je mehr man von ihr liest, desto weniger begreift man, warum das so ist. Denn nicht nur „Middlemarch“ und „Daniel Deronda“, dem ersten englischen Roman mit einem positiven jüdischen Helden, entfalten präzise und packende Gesellschaftspanoramen mit wunderbar komplexen Charakteren.

Auch der kürzlich von Elke Link und Sabine Roth neu übersetzte Roman „Silas Marner“ (ars vivendi 2018, 260 Seiten, 24 €), der die märchenhafte Geschichte eines melancholischen Webers und eines Findelkindes erzählt, oder der autobiografisch geprägte, einst von Simone de Beauvoir bewunderte Roman „Die Mühle am Floß“ um die aufmüpfige Maggie und ihren allzu prinzipienfesten Bruder Tom lohnen die Lektüre.

Einerseits eignet sie sich als Vorbild für spätere Feministinnen, tat sie doch, was sie wollte. Andererseits war sie mitnichten feministisch. Ihre Protagonistinnen sind fast durchweg starke Persönlichkeiten, bleiben aber in Konventionen gefangen, nicht zuletzt der des unbedingten Ehewunsches – auch wenn sie dadurch „nicht unbedingt fröhlichere Menschen werden“, wie Eliots Biografin Elsemarie Maletzke vermerkte.

In Bezug auf Suffragetten und die Frage des Frauenwahlrechts hielt sie sich bedeckt. Ihr ging es um die Anerkennung als Schriftstellerin in einer von Männern dominierten Welt. Dafür bezog sie männliche Standpunkte, die sie durch ihr gesamtes Lebenskonzept und ihre bloße Existenz konterkarierte.

Tobias Schwartz

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