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Kultur: Der sechste Kontinent

29. Mai 1953: Zwei Männer erreichen am Mount Everest den höchsten Punkt der Erde – und nehmen der Welt ein letztes Geheimnis

„Wir schlichen wie die Schnecken“, schreibt der Engländer Edward Norton 1924. „Es war mein höchster Ehrgeiz, zwanzig Schritte zu tun, ohne anzuhalten und nach Luft zu schnappen. Ich habe es nur auf dreizehn gebracht. In kurzen Abständen setzen wir uns hin, um einige Minuten zu rasten. Fürwahr ein trauriges Paar.“ Beinahe 30 Jahre später macht der Neuseeländer Edmund Hillary dieselbe Erfahrung: „Ich werde müde und will Zeit sparen. Mein Elan ist weg. Verbissen hacke ich mich weiter.“ Schließlich notiert Peter Habeler 1978: „Ich dachte nur noch in losen Assoziationen, und langsam überkam mich das Gefühl, dass dieser bedrohliche, furchtbare Berg eigentlich ein Freund sein könnte, wenn ich ihn nur richtig verstand.“

Unter den menschlichen Fortbewegungsarten ist Klettern die langsamste. Selbst tauchend legt der Mensch mehr Wegstrecke zurück als in dem kräftezehrenden Bemühen, sich über Felskanten, Steinstufen und spiegelglatte Eisflächen hinweg in die Höhe zu tasten. Und je höher er kommt, desto beschwerlicher wird es. Wofür ein Normalsterblicher in ebenem Terrain zu Fuß wenige Minuten bräuchte, das wird in der dünnen Luft der „Todeszone“ oberhalb von 7800 Metern zu einer Aufgabe von Stunden. Trotzdem zieht kein anderer Punkt der Erde die Menschen so sehr in den Bann wie der Gipfel des Mount Everest, die mit 8848 Metern höchste Erhebung des Globus, auf der nichts so kostbar ist wie Geschwindigkeit. An manchen Tagen schleppen sich Dutzende Gipfelstürmer hinauf. Und es stört sie nicht, dass sie auf dem „Dach der Welt“ noch einmal all das erleben, was schon für die Pioniere galt: Sie japsen, husten, keuchen und haben alle die Angst, nicht schnell genug zu sein. Nicht oben anzukommen, bevor die Reserven verbraucht sind und man von innen auskühlt.

Über 1500 Bergsteiger haben die küchentischgroße Schneekuppe schon erreicht, 175 ihren Ehrgeiz mit dem Leben bezahlt. Doch das hat dem Rekord-Berg nichts von seiner Attraktivität genommen. Jedes Jahr heben sich an seinen Flanken die Vorhänge für ein Theater, in dem immer wieder dasselbe Stück gespielt wird. Auf der Bühne stehen Selbstdarsteller, Scharlatane, Organisationsgenies und Despoten, Einzelkämpfer und Idealisten, in denen sich die besten und schlimmsten Eigenschaften eines Menschen offenbaren. „Ich finde es faszinierend“, schreibt ein Chronist, „dass der Everest genau die richtige Höhe für die vollkommene Herausforderung an die physische Kraft und Ausdauer eines Bergsteigers hat. Wäre er 1000 Fuß niedriger, dann wäre er 1924 erstbestiegen worden, wäre er 1000 Fuß höher, dann wäre er ein technologisches Problem gewesen.“ So aber ist der Everest in die kollektive Fantasie weniger als Gebirgsmassiv denn als ein Höhenreich eingegangen, in dem wie auf einem entrückten, vertikalen Kontinent die Komödie der Menschheit nachinszeniert wird.

Dabei hätte der Spuk am 29. Mai 1953 eigentlich vorbei sein müssen. An diesem Tag erreichten der neuseeländische Bienenzüchter Edmund Hillary und der Sherpa Tensing Norgay als erste Menschen die Everestspitze. Hillarys knapper Kommentar: „We knocked that bastard off.“ Sein Gipfelfoto zeigte einen vermummten Mann, um dessen Füße sich ein Seil schlängelte und der mit der Rechten seinen Eispickel in die blaue Unendlichkeit des Himmels reckte. Dass 350 Träger nötig waren, um 13 Tonnen Ausrüstung auf neun Hochlager zu verteilen, dass zahllose Versuche in Windkanälen und Unterdruckkammern das technische Gerät höhentauglich gemacht hatten und es am Ende ein fehlender Adapter war, der das ganze Unternehmen beinahe scheitern ließ, all das scheint in diesem Augenblick vergessen. In seiner schlichten, heroischen Geste ist diese Aufnahme von Tenzing Norgay vielleicht die letzte emphatische Selbsterhebung der Menschenzwerge über die Natur. Erleichtert befand Himalaja-Veteran Maurice Herzog: „Nach der Eroberung des Everest ist der Alpinismus von einer Zwangsvorstellung befreit – die Jagd nach dem Immer-noch-höher ist nun sinnlos geworden.“

Die Nachricht vom Erfolg der britischen Expedition erreichte London am Vorabend der Krönung Elizabeths II. Am Nordpol war das Kolonialimperium gescheitert, am Südpol deklassiert worden, nun hatte es wenigstens den „dritten Pol“ als Sieger erreicht. Und es sonnte sich in einem Triumph, von dem Pionier George Mallory drei Jahrzehnte zuvor geschwärmt hatte: „Nur der unbesiegte Everest hat einen Wert, der eroberte wird einen Preis haben.“

Beinahe 100 Jahre lang war der Berg eine Sache des nationalen Prestiges. Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts vermuten britische Landvermesser, die Indien mit einem Netz von Fixpunkten überziehen, die höchste Erderhebung im Himalaja. Aber sie bekommen sie nicht zu fassen. Erst 1856 rückt eine Berggruppe in den Blickpunkt der Geodäten, die sich meist hinter Wolken verbirgt. Nach mehreren Sichtungen entschließt man sich, „Peak XV“ zur Nummer Eins zu erklären und nach George Everest zu benennen, dem General-Landvermesser, der den Bergriesen allerdings nie zu Gesicht bekommt.

Da das Königreich Nepal eine für Europäer verbotene Enklave darstellt und auch Tibet Fremden jeglichen Zutritt verwehrt, bleibt der Everest zunächst außerhalb des britischen Herrschaftsbereichs. Indische Spione werden – als Pilger getarnt – in die verbotenen Regionen geschickt, um nähere Informationen zu beschaffen. 1913 sieht Captain J. B. Noel als erster Engländer die markante Schneekuppe des Everest aus der Nähe. Als Moslem verkleidet schleicht er sich mit einer Kamera bis auf 65 Kilometer heran. Dann wird er jedoch entdeckt und muss unverrichteter Dinge umkehren. Seine Fotos sind allesamt unbrauchbar.

Schwierigkeiten bereitet vor allem der Dalai Lama. Lange sträubt er sich, eine Genehmigung zur Erkundung des als Sitz der Götter verehrten Berges zu erteilen. Erst nach dem Ersten Weltkrieg lässt er sich erweichen. Zwischen 1921 und 1938 unternehmen Royal Geographic Society und Alpine Club acht Versuche, den Everest zu bezwingen. Alle scheitern, Bilanz: sieben tote Träger, und zwei verschollene Spitzenbergsteiger. George Mallory und Andrew Irvine werden bald zu den tragischen Helden einer Epoche hochstilisiert, die nach den massenhaften Menschenopfern in den europäischen Schützengräben einen anderen, reineren Sinn sucht. Sie vermutet ihn, wo Zivilisation und Technik an ihre Grenzen stoßen. Statt auf maschinellen Fortschritt soll es in dieser Schnee- und Eiswüste auf die zähe Ausdauer eines besessenen Geistes ankommen. „Es ist ein teuflischer Berg, kalt und heimtückisch“, offenbart Mallory einem Freund, „das Risiko ist zu groß und die Belastbarkeit des Menschen auf großer Höhe zu gering. Vielleicht ist es purer Wahnsinn, noch mal hinaufzugehen. Aber wie könnte ich der Versuchung widerstehen?“ So wird der junge Lehrer – wegen seiner katzenhaften, klettertechnischen Eleganz schon zu Lebzeiten als Liebling der Londoner literarischen Zirkel verehrt – zum „größten Antagonisten, den der Berg je hatte“. Auf die Frage, warum er sich der Lebensgefahr einer Everest-Besteigung überhaupt aussetze, gibt er die bis heute schlagende Antwort: „Weil es ihn gibt.“

Mallory und seinesgleichen begegnen dem Berg als Gentlemen. Ihre Unternehmungen gleichen mehr einer vornehmen Landpartie, es werden Dosen mit Heinz-Spaghetti in die Hochlager geschleppt und auf die Rückkehrer warten Wachteln und Trüffel in Gänseleberpastete. Technische Neuerungen werden brüsk als unfair zurückgewiesen. Man trägt taillierte Tweed-Jacken, Knickerbocker und dicke Wollstrümpfe. Verärgerung löst der Vorschlag aus, eine den Temperaturen angepasste Kopfbedeckung zu tragen. Man habe ihnen sogar geraten, „auf Tropenhelme zu verzichten“, notiert Mallory

Heute ist die Naivität, mit der sich Laien und Abenteurer auf den Everest begeben, nicht geringer geworden. An den vereisten Hängen und sturmgepeitschten Graten kraxeln zahlungskräftige Hobby-Athleten herum, die ohne die Hilfe professioneller Bergführer weder ein noch aus wüssten. Jedes Jahr verunglücken im Durchschnitt ein halbes Dutzend solcher Himmelsstürmer, die nur deshalb den Kitzel des Höhentodes erfahren, weil sie es sich finanziell leisten können. Bizarre Statistiken halten den Rekordwahn fest. Man springt mit Paraglidern vom Gipfel, fährt mit Skiern und Snowboard ab. Selbst Einbeinige und Blinde kriechen ihrem privaten Golgatha entgegen. Wobei Szenen wie die, als zwei Japaner bei ihrem Aufstieg auf drei halb erfrorene, in ihren Seilen verfangene Inder treffen, 50 Meter entfernt rasten und dann weiterklettern, keine Seltenheit sind.

Die Konkurrenz rivalisierender Teams, das Feilschen um Fährtenrechte, Sauerstoff-Depots und verlegte Fixseile haben ein Klima entstehen lassen, das kälter und trostloser ist, als es der Berg je sein könnte. Der zivilisierte Everest- Tourist von heute sieht sich in eine Zone vordringen, in der alles erlaubt ist. So sieht Reinhold Messner im Everest nurmehr einen „Gipfel des Selbstbetrugs“. Sein Credo: Der Mythos sei dem Superlativ gewichen, für jedermann machbar, also banal. Seit er mit seinem Partner Peter Habeler 1978 ohne zusätzlichen Sauerstoff und noch einmal zwei Jahre später im Alleingang zum „Endpunkt“ gelangte, reklamiert Messner für den Berg eine „Würde“, in der etwas von der beinahe metaphysischen Verpflichtung der Anfänge mitschwingt: Nur, wer die Sache um ihrer selbst willen angehe, werde der Herausforderung gerecht.

Aber da nun keine Pioniertaten mehr zu erwarten sind, wird der Berg konsumiert wie ein Erlebnispark. Man folgt den Fußstapfen eines Bienenzüchters und eines ungelernten Trägers nicht obwohl, sondern weil sie den Everest entzaubert haben.

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