zum Hauptinhalt
Sein psychologisches Verständnis fasziniert Schriftsteller bis heute. Karl Philipp Moritz (1756 – 1793) auf einem zeitgenössischen Gemälde von Friedrich Rehberg aus der Alten Nationalgalerie, Berlin. Abbildung: akg-images

© picture-alliance / akg-images

Kultur: Der Seelenleser

Berlin erinnert an das literarische Phänomen Karl Philipp Moritz.

„Die deutschen Schriftsteller“, sagt Conrad Wiedemann, „haben die Stadt nie wirklich geschätzt – im Gegensatz zu den englischen oder französischen.“ Insofern ist der 1756 in Hameln geborene Karl Philipp Moritz fast ein Sonderfall: eine literarische Gestalt, die ohne Berlin nicht denkbar ist – und ohne die wiederum Berlin nicht denkbar ist.

Aufklärer und Frühromantiker, Ästhetiker und Sonderling, Weltenerklärer und Wanderer, Selbstdenker und einer der ersten Psychologen der deutschen Literatur: Moritz, 1793 im Alter von nur 37 Jahren verstorben, ist überdies eine Leitfigur des von Wiedemann initiierten Projekts „Berliner Klassik. Eine Großstadtkultur um 1800“ (www.berliner-klassik.de). Mehr als 20 Bände sind in diesem Rahmen mittlerweile entstanden. Die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW) hat das Projekt indes nun gestoppt, als dürfte eine Stadt, die sich die leere Hülle eines Schlossneubaus leistet, auch gleich sämtliche Forschungen zum geistigen Berlin im 18. Jahrhundert abschaffen. Immerhin schreitet die auf 13 Bände angelegte, kritische und historische Ausgabe der „Sämtlichen Werke“ von Karl Philipp Moritz im Verlag Walter de Gruyter, die Wiedemann mitverantwortet, voran.

Wiedemanns Projekt und die „Arbeitsstelle Karl Philipp Moritz“ in der BBAW machen den in den Berliner jüdischen Salons und im Netzwerk der Freimaurer präsenten Polyphilosophen erstmals in seinem Kontext verständlich. Nur wenig erinnert im Stadtbild noch an Moritz: in der Münzstraße eine Tafel an das Wohnhaus, in Museen einige Porträts. Deshalb wird jeder Text von umfangreichen Forschungen begleitet. Die meisten Schriften von Moritz waren lange vergessen, obwohl Goethe ihn und seine Theorien in Italien schätzen gelernt hatte und von ihm sagte: „Er ist wie ein jüngerer Bruder von mir, von derselben Art, nur da vom Schicksal verwahrlost und beschädigt, wo ich begünstigt und vorgezogen bin.“

Den Anstoß zur neuen Moritz-Philologie gab Christof Wingertszahn, der Direktor des Düsseldorfer Goethe-Museums. Noch als Doktorand entdeckte er in der Schweiz den Briefwechsel zwischen Moritz und dem radikalen Pietisten Lobenstein, bei dem der Jugendliche in Braunschweig in eine Hutmacherlehre ging. Dessen religiös verbrämte Ausbeutung ließ ihn mehrfach an Selbstmord denken. Der Fund spiegelt die in Moritz’ stark autobiografischem Roman „Anton Reiser“ geschilderten Vorgänge.

In den Demütigungen seiner ärmlichen Kindheit und Jugend sah Moritz im Rückblick die Gründe für die Entstehung und Wiederkehr von Melancholien, ja Depressionen. Der scharfe Blick auf Ungerechtigkeit erschloss sowohl die Ursachen wie auch Folgen des quietistischen Schwärmertums, mit dem Moritz in seinem „psychologischen Roman“ abrechnete. „Anton Reiser“ ist über die Jahrhunderte immer wieder aufgelegt worden und fand illustre Leser, Gershom Scholem las ihn ebenso wie Walter Benjamin. Arno Schmidt rechnete Moritz unter die „Schreckensmänner“ des 18. Jahrhunderts, Georges-Arthur Goldschmitt setzte dem „Reiser“ in seinem autobiografisch geprägten Roman „Der Spiegeltag“ ein Denkmal. Wingertszahns 700-seitiger Kommentar belegt den biografischen Hintergrund minuziös.

Der früh traumatisierte Intellektuelle sah sich aber auch stets als Pädagoge. Moritz „war nach Schule und Studium Zeit seines Lebens als Lehrer und Professor tätig“, schreibt Jürgen Jahnke im Kommentar zu dem gerade erschienenen Band „Schriften zur Pädagogik und Freimaurerei“. In der Tat nutzte der von der zeitgenössischen Theatromanie geheilte Theologiestudent die Lehrerlaufbahn als Zugang zur Welt der Bücher und Gelehrten. Nach kurzen Aufenthalten am Philantropin des aufklärerischen Schulreformators Johann Bernhard Basedow in Dessau und als Informator am Großen Militärwaisenhaus in Potsdam mit seinen 6000 Zöglingen gelang ihm der Eintritt als Lehrer in die Unterschule (früher „Berlinische Schule“) des Grauen Klosters.

Im Viertel um die Klosterstraße vollzog sich der Aufstieg des Pädagogen. Als erster publizierte Moritz Unterhaltungen mit seinen Schülern auf Spaziergängen, bei denen er ihnen die Welt zeigte und sie zur Gottesgläubigkeit anhielt – Wandern war die ihm entsprechende Fortbewegungsart. Wenn auch in den „Unterhaltungen“ noch stark die aufklärerische Perspektive auf Leistung bemerkbar bleibt, so sind es dennoch die einfache Sprache und die Beispiele aus der Lebenswelt, die das Buch bemerkenswert machten. Noch häufiger nachgedruckt wurde die „Kleine Kinderlogik“ und vor allem das „Neue ABC-Buch“, mit denen Moritz ganz modern den Praxisbezug der Schule und die Selbsttätigkeit der Schüler betont.

Die Flucht aus dem seine Pläne allerdings bald einengenden „Schulkerker“ nach Italien, wo er sich der Ästhetik und der Antike widmete, brachte den Sprung in die akademische Sphäre. Seine Vorlesungen wurden nach der Rückkehr nach Berlin gesellschaftliche Ereignisse. Alexander von Humboldt etwa schrieb: „Sein Kollegium hat er mit ungeheurem Applausus angefangen. Er hat wohl 15-20 der angesehensten Damen zu Zuhörerinnen. Der Minister Heinitz, Graf Neal und die meisten Leute vom Hofe versäumen keine Stunde. Das Kollegium ist gewiss das glänzendste, was in Deutschland gelesen wird.“

An Moritz hatte die Berliner Gelehrtenrepublik ihr Versprechen eines standesunabhängigen Zugangs einmal wahr gemacht.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false