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Im Palast der abgesagten Filmfestspiele von Cannes wurde eine Schlafstelle für Obdachlose eingerichtet.

© Valery Hache/AFP

Der Shutdown als Chance: Was die Kulturszene in der Krise tun kann

Für Kulturschaffende ist jetzt der Moment, Solidarität zu zeigen und sich für Grundrechte einzusetzen. Ein Appell von Schriftsteller*in Sasha Marianna Salzmann.

Unsere Situation zwingt uns zu erkennen, dass wir unsere Ansprüche an uns selbst und andere nicht aufschieben und vertagen können. Wir können es uns nicht leisten, das, was wir tun und sein könnten, auf eine Zukunft zu verlagern. Die Bewährungsprobe findet jetzt statt. Alles, was wir zu tun haben, haben wir jetzt zu tun. (Christina Thürmer-Rohr: „Abscheu vor dem Paradies“, 1987)

Wie permanente Stromschläge erreichen uns die Nachrichten über Covid-19 auf allen denkbaren Kanälen. Unsere Gespräche drehen sich meist ausschließlich um das Virus, und jede noch so kurze Abschweifung endet wieder in der Sackgasse: Wie wird die Welt aussehen im Herbst?

Unsere Körper pulsieren im Beat der Angst

In meinen Kreisen, bei den Kunst- und Kulturschaffenden – also in einem Umfeld, das gerade nicht in den Kliniken für die Aufrechterhaltung des Gesundheitssystems kämpft, an der Supermarktkasse sitzt oder Pakete ausliefert –, ist Thema Nummer zwei, dass man nicht mehr arbeiten kann.

Weil die Lesungen, Projektmeetings und sonstigen Auftrittsmöglichkeiten wegfallen, aber vor allem, weil Corona jede Faser des Hirnmuskels besetzt. Unsere Körper pulsieren im Beat der Angst. Angst um die eigene Gesundheit, um die Gesundheit anderer, um den Arbeitsplatz, die Miete, die zu zahlen ist, die Spielstätten, die einem ein sicherer Hafen sind, um die Lieblingscafés, die Buchhandlungen, um die selbst verwalteten Läden.

Man kommt zu nichts, auch wenn jetzt so viel Zeit wäre (wir in Quarantäne, wir, die ohnehin den Laptop als dritten Arm am Körper tragen). Manche in Schockstarre (ich, manchmal), manche in Wut (ich, stets). Schockstarre, unter anderem weil viele nicht wissen, ob und wann sie geliebte Menschen wiedersehen können. Wut unter anderem darauf, dass die jetzige Situation denen den Boden unter den Füßen wegreißt, die sowieso prekär und gefährdet leben.

Es ist zu spät, sich auf einen Notfall vorzubereiten, wenn er da ist. Er legt lahm und zeigt die ohnehin versehrten Stellen.

Die Krise funktioniert wie die Krise einer jeden Beziehung

Und so sind wir unter Schock, aber nichts überrascht. Die Krise, die die Pandemie über uns bringt, funktioniert wie die Krise einer jeden Beziehung: Man hat schon vorher von den Problemen gewusst, konnte sie aber entweder verdrängen oder kleinreden.

Alle, die jetzt zu Hause sitzen und sich an der Gesellschaft der Person erfreuen, mit der sie die selbst auferlegten oder staatlich verordneten Ausgangsbeschränkungen durchleben, wussten schon vorher, dass es der Mensch sein wird, mit dem sie alt werden wollten.

Alle, die jetzt mit dem Anstieg von häuslicher Gewalt zu tun haben, sahen das Problem auch schon vor Corona. Alle, die jetzt ahnen, dass der Staat sie im Stich lassen oder sich nicht um ihren Untergang scheren wird, ahnten das auch vor Corona.

Alle, die sich jetzt verpflichtet fühlen, für den Erhalt ihrer Community zu sorgen, mit Bedürftigen zu telefonieren, ihnen das Nötige zu bringen (und sei es emotionaler Support), taten das schon vor Corona.

Und diejenigen, denen schon immer langweilig war, die schon immer glaubten, Probleme lägen außerhalb der europäischen Grenzen in Ländern mit schwer einprägsamen Namen, stellen sich auf dauerhaftes Netflix-Streaming, endloses Gaming und photogene Lethargie ein. Daran ändern auch die Bilder des Militärkonvois mit Särgen auf dem Weg von Bergamo nach Modena gar nichts.

Wer immer nur an den eigenen Arsch denkt, deckt sich mit Klopapier ein

Und so verhält es sich mit der aktuellen wie mit allen anderen politischen Krisen, in denen wir seit Jahren stecken: Diejenigen, die glauben, man kann Krisen mit Waffen lösen, decken sich gerade mit Waffen ein und potenzieren das Klima der Angst ins Unermessliche.

Diejenigen, die schon immer nur an ihren Arsch gedacht haben, decken sich mit Klopapier ein und verursachen so Engpässe bei der Versorgung der Mitmenschen (mit dem halbwitzigen Nebeneffekt, dass Amazon momentan das Verkaufsobjekt Buch zurückgestuft hat, um Platz zu schaffen für ... ja, genau, kann man sich denken).

Hintergrund über das Coronavirus:

Denjenigen, denen die Geflüchteten auf den griechischen Inseln schon vorher egal waren, finden auch jetzt nichts dabei, dass die bereits zugesagte Hilfe für Minderjährige auf Lesbos, die medizinischer Versorgung bedürfen, ausgesetzt wird. Sie finden auch nichts dabei, dass das Bundesland Sachsen sich bereit erklärt, italienische Kranke aufzunehmen und das Saarland französische Kranke, aber kein Mensch ein Signal in Richtung der Aufnahmelager in Griechenland schickt, wo Bedürftige dringend auf eine Genehmigung für die Evakuierungsflüge warten.

Sasha Marianna Salzmann lebt in Berlin und ist Theaterautor*in, Essayist*in und Romancier. 2017 erschien das Romandebüt "Außer sich".
Sasha Marianna Salzmann lebt in Berlin und ist Theaterautor*in, Essayist*in und Romancier. 2017 erschien das Romandebüt "Außer sich".

© Heike Steinweg

Was könnte man tun? Es gibt die Möglichkeit der horizontalen Solidarität und der vertikalen: Die horizontale teilt mit den Menschen, die genauso viel oder genauso wenig haben, mit denen man also in der Nahrungskette der Gesellschaft auf Augenhöhe ist.

Die vertikale verteilt von oben nach unten, die NBA-Spieler in den USA machen es gerade vor, indem sie Teile ihrer sechsstelligen Honorarbeträge auf die Menschen aufteilen, die in den Basketballarenen Junkfood verkaufen und bei denen in den nächsten Monaten der Lohn wegfällt. Da ich unter den Kunst- und Kulturschaffenden im deutschsprachigen Raum wenige mit Millionen auf dem Konto vermute, bleibt uns die Option der horizontalen Solidarität. Sie bedeutet auch, dass wir weiter schauen, als wir es gewohnt sind.

Das bedingungslose Grundeinkommen würde Marginalisierten helfen

Wahrscheinlich haben die meisten noch nicht über eine globale medizinische Grundversorgung nachgedacht. Vielleicht konnten sie es sich nicht leisten, dafür Interesse aufzubringen, weil das Geld für die Monatsmiete mühsam auf drei unterschiedlichen Arbeitsplätzen erwirtschaftet werden musste.

Manchmal bleibt einem einfach keine Zeit, sich für die rumänischen und polnischen Arbeitskräfte zu interessieren, die ihren Lebenssaft in deutsche Altersheime pumpen – oder unseren Spargel stechen sollen. Gäbe es das lang schon diskutierte bedingungslose Grundeinkommen, könnten Marginalisierte von ihrem Recht, Rechte zu haben, Gebrauch machen.

Und wir, die Kunst- und Kulturschaffenden, haben die Zeit, uns dafür einzusetzen, oder mehr noch: Es ist unser Job, Zusammenhänge anschaulich zu machen und Fragen aufzuwerfen. Wir könnten einfordern, dass neben bedingungslosem Grundeinkommen auch eine globale Krankenversicherung Gegenstand der politischen Debatten sein muss. Wir brauchen diese Grundrechte nicht nur für Deutschland.

Wir sind ineinander verflochten wie Zöpfe

Dass die kaputtgesparten Gesundheitssysteme in Ländern wie Spanien und Italien mit der Herausforderung durch Corona nicht fertigwerden, ist auch eine Folge der europäischen Austeritätspolitik. Sie schlägt nun wie ein Pendel auch Richtung Deutschland zurück.

Wir sind ineinander verflochten wie Zöpfe. Und wem die Forderung nach Solidarität zu viel Eso-Kram ist, wird vielleicht das Argument verstehen, dass Deutschland nicht allein aus Altruismus die Nachbarländer in dieser Krise unterstützt und Beatmungsgeräte nach Italien liefert. Kein Land wird allein virusfrei, ganz egal, wie lange die Grenzen geschlossen bleiben. Übertragen wir diesen simplen Fakt auf unsere unmittelbare Umgebung.

Wie in Beziehungen, von denen man glaubte, sie lägen in Scherben und die nun, in der Krise, doch wieder Bestand haben, können wir anfangen, uns um die Bereiche zu kümmern, die vorher außerhalb unseres Sichtfeldes lagen. Es kann, muss aber nicht notwendigerweise die nächste Serien-Empfehlung sein, es kann auch ein Zettel im Hausflur sein, auf dem man Hilfe anbietet.

Wir haben maßgeblichen Anteil daran, wie die Welt Herbst aussieht

Oder man tritt einem Netzwerk bei, etwa LGBTQIA+ & Womxn Relief for Covid-19, auch wenn man nicht queer ist, sondern weil man helfen möchte. Einfach so. Auch wenn für einen nichts dabei rausspringt. Das ist auch ein Beitrag zur Kultur – Menschenpflege.

Wir könnten den Institutionen, mit denen wir arbeiten, schmackhaft machen, es genauso zu halten wie die Filmfestspiele in Cannes, die nach mühseligem Hin und Her nicht nur das Festival absagten, sondern ihren Veranstaltungsort Obdachlosen zur Verfügung stellten. Das nenne ich Glamour.

Vielleicht kann also der Kulturbetrieb doch vertikale Solidarität – wenn Cannes gelebte Utopie kann, können wir das auch. Wie die Welt im Herbst und danach aussehen könnte, an dem haben wir, nicht das Virus, maßgeblich Anteil – es entscheidet sich jetzt. Was können wir tun? Überraschen wir uns!

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