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Kultur: Der Sommer, als die Hauptstadt starb

Niedergekämpft von den Deutschen, im Stich gelassen von den nachrückenden Russen: Der Warschauer Aufstand, der am 1. August vor 60 Jahren begann, bleibt ein Trauma der polnischen Geschichte. Erinnerung an eine Katastrophe

Warschauern, die ihre Kindheit in der Volksrepublik Polen verbracht haben, ist der 1. August in Erinnerung geblieben. Es gab um diesen Tag herum die ersten Melonen; ein Erlebnis, das man im Zeitalter des globalisierten und saisonlosen Obsthandels gar nicht mehr erklären kann. War man am 31. Juli oder 1. August in der Stadt, wurde es ernst. Man fuhr abends auf den PowazkiFriedhof, die größte Warschauer Nekropole. Hier wurden Kerzen an den Gräbern der Gefallenen von 1944 angezündet – Tausende von Kerzen, die den Friedhof auf eine eigentümliche Weise aufleuchten ließen. Einige zündeten Kerzen an Gräbern an, auf denen Namen standen. Viele gingen zu den namenlosen Kreuzen; Warschau war nach 1945 hauptsächlich von Bauern aus Ost- und Zentralpolen aufgesiedelt worden, die meisten der Zugereisten hatten hier weder Verwandte noch Gräber, mit denen sie sich besonders verbunden gefühlt hätten. Durch die Alleen wanderten Menschen aller Generationen; hier und da ein lauteres Gespräch, die hohe Stimme eines Kindes, aber insgesamt blieb die Masse still, irgendwie abwesend. Viele beteten.

Der Rückweg im überfüllten Bus führte durch dunkle Straßen. Die Stadt blieb auch im Sommer so unwirtlich wie immer. An den Eingängen der Betriebe im westlichen, industriell geprägten Teil identifizierte man in großen Abständen Aufschriften, die das Rosa-Luxemburg-Werk oder ein anderes Prunkstück moderner sozialistischer Massenfertigung ankündigten. Im Zentrum leuchteten einige Neonlichter von Geschäften und Hotels, ansonsten waren die Hauptstraßen fast ebenso trübe wie der industrielle Teil. Die Menschen im Bus schwitzten, sehnten sich nach ihren Zwei-Zimmer und 50 Quadratmeter großen Wohnungen im Plattenbau. In der Spätausgabe der Nachrichten – Fernsehen war damals nicht nur im Westen etwas anderes als heute – sah man die bäuerlichen Gesichter in dunklen Anzügen, wie sie einen Kranz niederlegten, eine Rede hielten, eine Trauerminute absolvierten. Vorher oder nachher lief etwas über Vietnam; oder über die Ernte, die auch in diesem Jahr anders ausfallen werde als im Plan angekündigt.

Der Warschauer Aufstand im Sommer 1944 endete mit der größten Katastrophe in der polnischen Geschichte. Ein knappes Drittel der Stadt wurde während der neunwöchigen Kämpfe zerstört. Ein ähnlicher Anteil der Bausubstanz, so die Schätzungen, fiel der systematischen deutschen Zerstörungsaktion nach der Kapitulation der Aufständischen zum Opfer – darunter die bekanntesten Paläste, Kirchen und Bibliotheken. Warschau, so die Abschiedsbotschaft des Nationalsozialismus, sollte „ausgelöscht“ werden – „der Kopf, die Intelligenz“ eines „Volkes, das uns seit 700 Jahren den Osten blockiert“ – so Heinrich Himmler – sei „dem Erdboden gleichzumachen“. Fast ist dies gelungen, bevor die Deutschen am 16. Januar 1945 die Stadt räumten, in deren Ruinen am nächsten Tag die Rote Armee und die an ihrer Seite kämpfenden polnischen Einheiten einmarschierten.

Warschau hatte nicht nur sein Antlitz verloren. Von den 1,3 Millionen Bewohnern vor dem Krieg waren etwa 400000 Juden gewesen. Wir wissen nicht, wie viele den Holocaust überlebt haben, aber es werden kaum mehr als die landesüblichen zehn Prozent gewesen sein; es ist nicht bekannt, wie viele von ihnen nach 1945 in die Stadt zurückgekommen sind. Während und nach dem Aufstand im Warschauer Ghetto im April 1943 wurden die letzten 60000 Juden ermordet oder in Lager verschleppt. Das Ghetto selbst (ein knappes Sechstel der Stadtfläche) wurde aufgelöst und zerstört. Beim Aufstand 1944 sind 150000 bis 180000 Menschen umgekommen, vermutlich etwa neun Zehntel davon Zivilisten, die in Massenexekutionen, unter Artilleriefeuer und Bomben starben. Nur auf dem östlichen Weichselufer, im eher peripheren Stadtteil Praga, der vom Aufstand kaum erfasst worden war und im September 1944 von Sowjets und polnischen Truppen befreit wurde, haben etwa 200000 Warschauer das Ende der Besatzung großteils in ihren eigenen Wohnungen erlebt. Die überlebende Bevölkerung des „eigentlichen“ Warschau auf dem westlichen Ufer wurde nach Ende des Aufstands vertrieben – etwa 200000 ins Generalgouvernement, rund 150000 zur Zwangsarbeit in Deutschland.

1945 gab es Überlegungen, die Warschauer Ruinen stehen zu lassen und die Hauptstadt in das ebenso zentral gelegene und kaum versehrte Lodz zu verlegen. Die Kommunisten, die von den Sowjets als neue Machthaber installiert wurden, entschieden sich letztlich anders: Nicht nur blieb Warschau Hauptstadt, es wurden sogar beachtliche Teile der Altstadt und mehrere Paläste im Stadtzentrum wiederaufgebaut. Die wiederaufgebaute Altstadt wurde 1954 demonstrativ, wie es in einer Urkunde heißt, „von der Regierung dem Volk zurückgegeben“. In die Adelspaläste zogen Ministerien ein; ein repräsentatives, in der Geschichte der Adelsrepublik verwurzeltes Äußeres der neuen Staatsgewalt konnte gewiss nicht schaden. Man sollte jedoch nicht allzu zynisch sein: Der Bedarf, die Volksrepublik Polen symbolisch mit der Vergangenheit des Landes zu verknüpfen, brachte Warschau den Segen in Gestalt eines alt aussehenden Stadtkerns. Vermutlich hätte es sich keine demokratisch legitimierte Regierung 1945 leisten können, dem Wiederaufbau der historischen Paläste und Bürgerhäuser gegenüber dem Wohnungsbau den Vorzug zu geben.

In anderen Stadtteilen spielten derartige Überlegungen keine Rolle. Bei der Verwandlung Warschaus in eine sozialistische Hauptstadt wurde viel Altbausubstanz aus dem 19. Jahrhundert abgerissen. Bis Mitte der Fünfzigerjahre entstanden stalinistische Prachtbauten, später schlichte Wohnsiedlungen und öde Massenschlafstätten. Selbst Jahrzehnte nach dem Krieg fiel den Warschauern erst in Prag oder Budapest auf, in welch seltsamer Stadt sie lebten; andererseits mochte ein Besuch in Minsk nahezu euphorische Dankbarkeit evozieren.

Es war aber nicht die permanente Entwurzelung der neuen Warschauer in ihrem eigenem Wohnort, die ihre Hauptassoziation mit der beinahe vollzogenen Hinrichtung der Stadt 1944 ausgemacht haben dürfte. Die Sowjets hatten den Aufstand von den Deutschen niederkämpfen und ausbluten lassen. Nicht nur haben sie wochenlang nichts unternommen, um den Polen zu helfen, sie haben sogar den Amerikanern für die geplanten Warschau-Flüge die Landeerlaubnis auf ihren Flughäfen verweigert. Moskau erklärte seine Haltung damit, dass der Aufstand von einer „reaktionären Clique“, von „polnischen Emigrantenkreisen in London“ ausgelöst worden sei, „blutige Verräter“ in der Führung des Aufstands hätten lieber mit den Deutschen als mit den Sowjets kooperiert. Nach der Sprachregelung des Hochstalinismus hatte nur der kommunistische Widerstand gegen die „hitleristischen Okkupanten“ gekämpft, die „bürgerliche“ Armia Krajowa arbeitete gar mit der Gestapo zusammen. Erst im Zuge der Entstalinisierung 1956 änderte sich diese Haltung zum 1. August, der seither nicht mehr feindselig beschwiegen, sondern vorsichtig gewürdigt wurde: Das Heldentum des „Warschauer Volkes“ und der einfachen Soldaten wurde hervorgehoben, die Entscheidung der Führung hingegen, einen Aufstand ohne Absprache mit Moskau auszulösen, als verantwortungslos verdammt. Die neue Lesart überbrückte die Kluft, die zwischen gesellschaftlicher Erinnerung und den staatlichen Vorgaben bis 1956 geklafft hatte; nur konnte auch sie nicht erklären, im Namen welcher Moral die Sowjetunion als Mitglied der Anti–Hitler-Koalition den Widerstand, der sich gegen die Deutschen erhoben hatte, verbluten ließ.

Die Exkursionen der Warschauer zum Jahrestag des 1. August auf den Powazki-Friedhof hatten daher immer einen Beigeschmack passiver Resistenz. Ende der Siebzigerjahre, als in Polen eine starke Dissidentenbewegung entstand, gehörte die „Entlügung“ der Geschichte zu den häufigsten Forderungen. An das Schicksal Warschaus 1944 erinnerte Johannes Paul II. während seiner ersten Polenreise 1979; es war vermutlich einer jener Augenblicke, in dem die Machthaber die Live-Übertragung am liebsten abgebrochen hätten. Am 1. August 1981, in der Zeit der legalen „Solidarnosc“, zeigte sich überdeutlich, dass die Tradition des Aufstands von der antikommunistischen Opposition vereinnahmt worden war. Endlich stimmte die Obrigkeit 1984 der Errichtung eines Denkmals zu – in einer Stadt, in der bis dahin weder ein Straßenname noch ein zentraler Gedenkort an 1944 erinnern durfte.

In der Dritten Polnischen Republik sind die Emotionen um den Aufstand verblasst: Da keiner mehr Stalin verteidigt und kein Aspekt des Sommers 1944 ausgeblendet wird, gibt es einen weitgehenden Konsens um die nationale Ikone, die mit einer Verspätung von 45 Jahren zu einer staatlichen geworden ist. In einer Meinungsumfrage zum 50. Jahrestag antworteten 86 Prozent der Befragten, dass sie den Aufstand für ein „wichtiges“ historisches Ereignis halten. Zwei Drittel meinten, der Aufstand sei zu bedeutend, um bei einer rationalen Betrachtung zu bleiben, nur 22 Prozent wollten ihn emotionslos betrachten. Knapp die Hälfte war der Ansicht, dass es zum Aufstand kommen musste, ein Drittel meinte, dass es nicht dazu hätte kommen sollen.

Es waren vor allem zwei Reden bei den internationalen Feiern vor zehn Jahren, die verdiente Beachtung fanden. Bundespräsident Roman Herzog – gegen dessen Kommen Kombattantenverbände protestiert hatten – verneigte sich in einer würdevollen Ansprache vor der Tragödie Warschaus und bat „um Vergebung für das, was Ihnen von Deutschen angetan worden ist“. Der polnische Präsident Lech Walesa ging auf eine Dimension des Jahrestags ein, die wenige Wochen vorher sein US-Amtskollege bei den Feiern in der Normandie angesprochen hatte. Bill Clinton deutete das Zusammenwachsen Europas nach 1989 als eine Vollendung des Sieges von 1944/45, von dem nur ein Teil des Kontinents profitiert hatte. Walesa mahnte, Warschau sei 1944 Opfer zweier Totalitarismen geworden. Nach dem Aufstand aber dachte „keiner der Großen dieser Welt an die Sache, für die Warschau gestorben war. Keiner rief: ,Ich bin ein Warschauer’, keiner stellte laut die Frage: Quo vadis, Europa? Im Namen des Friedens, im Namen falsch verstandener Eintracht steckte man Einflusszonen ab".

Die Warnung, ein allzu pragmatisches Verständnis westlicher Interessen bedeute Verrat am Alliierten Polen und sei langfristig auch dem Westen nicht dienlich, sollte in der künftigen Diskussion um die Aufnahme Polens in die NATO mehr als einmal wiederholt werden. Das Aufstandserbe wurde gewissermaßen in die gemeinsame Erinnerungskultur der Alliierten zurückgerufen, zu denen 1944 auch Polen gehört hatte: dies war die erste Pointe. Zugleich sprach aber Walesa von Brückenbau und Freundschaft mit Russland, von Freundschaft und guter Nachbarschaft mit Deutschland: Die Erinnerung an den Aufstand sollte die Dritte Republik mit der Außenwelt verbinden und nicht von ihr trennen, auch nicht von früheren Feinden. So mochte vor zehn Jahren der Eindruck entstanden sein, dass die Nachgeschichte des Sommers 1944, die gerade eben ihre innerpolnische Rolle als Streitobjekt eingebüßt hatte, nun auch außenpolitisch integrativ wirken könnte. Die Feiern zum 60. Jahrestag werden zeigen, ob dieser Eindruck richtig war.

Wlodzimierz Borodziej ist Professor für Zeitgeschichte an der Universität Warschau und hat unter anderem „Der Warschauer Aufstand“ (Fischer Taschenbuch, 256 Seiten, 12,90 €) veröffentlicht.

DIE REVOLTE

DER HEIMATARMEE

63 Tage dauerte der Aufstand der polnischen Untergrundarmee „Armia Krajowa“ gegen die nationalsozialistischen Besatzer Warschaus: vom 1. August bis 3. Oktober 1944 . Dabei starben fast 200000 Polen . Nach der Kapitulation der Aufständischen wurde Warschau fast vollständig zerstört , die überlebenden Zivilisten wurden vertrieben.

DAS GEDENKEN

Die Millionenstadt will am 1. August um 17 Uhr mit einem Moment der Stille des Ausbruchs des Aufstands gedenken. Zu den Feierlichkeiten rund um den 60. Jahrestag reist auch Bundeskanzler Schröder nach Warschau. In Berlin findet Sonntag um 10 Uhr ein Gedenkgottesdienst in der St. Hedwigs Kathedrale statt, mit dem Berliner Kardinal Sterzinsky und dem Gnesener Metropoliten Henryk Muszynski.

WEITERE

LITERATUR

Norman Davies: Aufstand der Verlorenen. Der Kampf um Warschau. Droemer, München 2004. 29,90€.

Der Warschauer Aufstand 1944 , hg. von Bernd Martin, Stanislawa Lewandowska, Deutsch-polnischer Verlag, Warschau ’99, 33€

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