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Kultur: Der sterbende Schmarren

fragt sich, wie lange man mit einer Kugel leben kann Unter Opernfeinden gilt Massenets „Werther “ gern als Paradebeispiel für die Absurdität des Musiktheaters. Man stelle sich vor: Der Titelheld, ähnlich wie bei Goethe übrigens eine ziemlich egomanische Nervensäge, schießt sich zwischen drittem und viertem Akt eine Kugel durchs Herz, ist aber anschließend noch so gut bei Stimme, dass er den ganzen letzten Akt der Oper aus Leibeskräften singen kann.

fragt sich, wie lange man mit einer Kugel leben kann Unter Opernfeinden gilt Massenets „Werther “ gern als Paradebeispiel für die Absurdität des Musiktheaters. Man stelle sich vor: Der Titelheld, ähnlich wie bei Goethe übrigens eine ziemlich egomanische Nervensäge, schießt sich zwischen drittem und viertem Akt eine Kugel durchs Herz, ist aber anschließend noch so gut bei Stimme, dass er den ganzen letzten Akt der Oper aus Leibeskräften singen kann. Verdis ebenfalls von Pistolenschüssen niedergestreckte Helden Posa („Don Carlos“) und Riccardo („Ein Maskenball“) verabschieden sich dagegen geradezu lakonisch in jeweils knapp fünf Minuten, und Donizettis Edgardo („Lucia di Lammermoor“) stirbt sogar noch viel schneller, nachdem er sich einen Dolch in den Leib gerammt hat. Da hilft auch nicht, dass Massenet sich seinerzeit bei Medizinern genau erkundigt hatte, wie lange man mit einer Kugel im Herzen noch leben konnte (in Zeiten, als Duelle ausgetragen wurden, gab es in dieser Hinsicht einige empirische Fakten). Auf der Bühne bringt die nichtendenwollende Sterbeszene jeden Regisseur in Erklärungsnot, gerade wenn sie schön und mit kerngesunder Stimme gesungen wird – am schönsten und elegantesten ist das übrigens bei Frankreichs Jahrhunderttenor Georges Thill zu hören, der 1931 an der Maßstäbe setzenden Aufnahme des Werks beteiligt war, doch das nur am Rande. An der Deutschen Oper freilich hat Sebastian Baumgarten, die gefeierte „Lichtgestalt“ des deutschen Regietheaters („Die Zeit“), das Problem plausibel gelöst – wie, wird nicht verraten und lässt sich noch einmal am 26.5. erleben. Übrigens sogar in der darstellerisch wie sängerisch überzeugenden Premierenbesetzung mit Paul Charles Clarke und Charlotte Hellekant.

Arbeiten von der Genauigkeit und Hellsichtigkeit des „Werther“ sind in Berlin leider die Ausnahme: In dieser Saison beispielsweise lassen sich lediglich die „Alcina“ an der Komischen Oper und Puccinis „Mädchen aus dem goldenen Westen“ als Zugewinn für das Repertoire verbuchen – und beide sind auch schon nicht mehr auf den Spielplänen.

Jörg Königsdorf

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