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Kultur: Der stille Beobachter

Wilhelm Genazino erhält den Fontane-Preis in Berlin

Wenn man sich nichts mehr wünschen kann, hat Wilhelm Genazino einmal in einem Interview gesagt, „ist man ja schon fast tot“. Nicht wunschlos, aber zufrieden konnte er am Dienstagabend in der Akademie der Künste den Kunstpreis Berlin entgegennehmen. Der in diesem Jahr als Fontane-Preis vergebene Kunstpreis wird im jährlichen Wechsel von einer der sechs Sparten der Akademie verliehen. Während der Präsident der Akademie György Konrád sich eine spielerische und festliche Veranstaltung wünschte, erinnerte Kultursenator Thomas Flierl an die bedrohliche Weltlage. Vom Kunstpreis, der 1948 zum Gedächtnis an die gescheiterte Märzrevolution von 1848 ins Leben gerufen wurde, schlug Flierl einen Bogen zum Herbst 1989. Mit Blick auf die „gefährliche Hybris“, der die Vereinigten Staaten zu erliegen drohten, erklärte er Berlin zur „Hauptstadt des Protestes gegen den beabsichtigten Völkerrechtsbruch“.

Ein Mann des lautstarken Protestes war aber gerade der preisgekrönte Genazino nie. Ihn charakterisieren die leisen Tön. Geboren 1943 in Mannheim, lebt Genazino heute in Heidelberg. Sein erster Roman „Laslinstraße“ erschien 1965. Bekannt wurde er mit der „Abschaffel-Trilogie“ in den Siebziger Jahren. „Liest man heute diese Trilogie“, so der Laudator Helmut Böttiger, „hat man plötzlich das Gefühl, dass nirgendwo sonst die Realität der alten Bundesrepublik, dieses reichen, armseligen Landes so genau beschrieben worden ist wie hier.“ Abschaffel ist Angestellter, ein nahezu unsichtbarer Zeitgenosse. In den Siebziger Jahren, als sich die Protagonisten der Studentenproteste in verschiedenen Selbstfindungsprojekten engagierten, war Abschaffel auch ein wandelnder Anachronismus.

Nach Beendigung der Trilogie wurde es still um Genazino. Fast ein Jahrzehnt verging, bis 1989 ein neuer Titel auftauchte. Es sei ein Neuansatz mit „Bekenntnischarakter“ gewesen, so Böttiger. Die Poetik, die sich aus „Der Fleck, die Jacke, die Zimmer, der Schmerz“ destillieren ließ, lief auf eine „Theorie der Verborgenheit“ hinaus. Ihr zufolge ist es dem Schriftsteller aufgegeben, die Gesellschaft zu beobachten, ohne selbst von ihr beobachtet zu werden. Diese Berufsauffassung hat Genazino in den Neunziger Jahren nicht nur zu einem herausragenden Phänomenologen des Alltags gemacht. Mit seinen im Zweijahresrhythmus erscheinenden Romanen war er auch einer der produktivsten Schriftsteller der Gegenwart. Dennoch wäre er beinahe selbst seiner Theorie der Verborgenheit zum Opfer gefallen, hätte nicht die Geschichte eines Mannes, der sein Geld als Probeläufer für englische Luxusschuhe verdient, endlich den großen Erfolg gebracht. Mit „Ein Regenschirm für diesen Tag“ war Genazino 2001 in aller Munde. Gerade ist sein neuestes Buch „Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman“ erschienen. Es sei „sein bisher allerschönstes“, so Böttiger. In ihm führe Genazino die „Gratwanderung zwischen Schmerz, Melancholie und der Freude am Augenblick“ fort, die „Peinlichkeit des Daseins“ werde „immer traumwandlerischer in Literatur“ aufgelöst.

Und Genazinos Wünsche? Vom Krieg hat er nicht gesprochen. Oder doch? In seiner Dankesrede zitierte er die Beschwerde Fontanes, „immer in Verhältnissen zu leben, in denen fast nie etwas stimmte, immer in der Bredouille“ zu sein. Eigentlich, so Genazino, befinde man sich immer in solchen Bredouillen. Welche er gemeint haben mochte, konnte man nur erraten.

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